Matthäus 22,34-46

Gottes Gebot

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Dreifaches Seil
Als die Pharisäer hörten, dass Jesus die Sadduzäer zum Schweigen gebracht hatte, kamen sie bei ihm zusammen. Einer von ihnen, ein Gesetzeslehrer, wollte ihn auf die Probe stellen und fragte ihn: Meister, welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste? (Mt 22,24-36)

Welches Gebot ist das wichtigste? Wer so anfängt zu fragen, stellt bereits Gott auf die Probe. Was muss ich unbedingt halten und wo kann ich ein Auge zudrücken? Wir rechnen die Gebote und ebenso die Verstöße dagegen nach einem bestimmten Wert auf wie bei einer Prüfung. Wenn es genügt, die Prüfung mit 60% zu bestehen, muss ja nicht jeder 100% bringen.
Doch Jesus denkt anders. Wir müssen immer bestrebt sein, 100% zu bringen. Es geht darum, ein Leben zu führen, so wie Gott es will. Das erfordert vollen Einsatz. Alles steht miteinander im Zusammenhang und wenn wir bei einer kleinen Sache bewusst nachlässig sind, kann sich das auf unser ganzes Leben auswirken.
Wir werden nie vollkommen sein, wir werden immer Fahler machen, das weiß auch Jesus. Aber wir dürfen diese Fehler nicht bereits in unsere Berechnungen einkalkulieren. Wenn wir einen Fehler machen, und sei er noch so klein, müssen wir dies ernst nehmen und nach Wegen suchen, dass wir es das nächste Mal besser machen.
Der Weg zur Vollkommenheit führt über die Treue in den kleinen Dingen. Nur wenn wir dabei nach Vollkommenheit streben, wird uns auch der große Lebensentwurf gelingen, werden wir die Heiligkeit erlangen, zu der Gott uns berufen hat.

Er antwortete ihm: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. (Mt 22,37-38)

Es gibt ein erstes Gebot. Es lautet: Gott zuerst! Immer muss Gott an erster Stelle stehen. Jesus zitiert hier Dtn 6,5. Dort wird das für die Juden grundlegende Gebot aufgezeigt. Gott ist der einzige Gott und ihm anzuhangen muss unser ganzes Verlangen sein. Seine Weisung sollen wir stets im Herzen tragen und die Juden tragen sie in den Tefillin auch sichtbar an ihrem Leib. Doch es kommt nicht auf Äußerlichkeiten an, sondern auf unser Herz. dort erkennen wir, ob wir Gott nur äußerlich verehren, oder ob wir ihn auch wirklich lieben.

Liebe den Herrn, deinen Gott, mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit deinem ganzen Geist! "Liebe!" sagte er, nicht: "Fürchte!" Denn Lieben ist mehr als Fürchten; Fürchten ist typisch für Sklaven, Lieben aber für Söhne. Furcht unterliegt dem Zwang, Liebe aber vollzieht sich in Freiheit. Wer in Furcht dem Herrn dient, der entgeht zwar der Strafe, erhält aber keinen Lohn für seine Gerechtigkeit, weil er unwillig das Gute aus Furcht tat. Gott will also nicht, dass er in sklavischer Weise von den Menschen gefürchtet wird wie ein Herr, sondern dass er geliebt wird wie ein Vater, der den Menschen den Geist der Gotteskindschaft geschenkt hat.
Gott lieben aus ganzem Herzen heißt, dass dein Herz an nichts mehr hängt als an der Liebe zu Gott. Gott lieben aus ganzer Seele heißt, die Seele ganz sicher in der Wahrheit zu haben und fest im Glauben zu sein. Die Liebe des Herzens ist nämlich das eine, die Liebe der Seele das andere. Die Liebe des Herzens ist gewissermaßen menschlicher Natur, dass wir Gott auch menschlich lieben; das können wir aber nur, wenn wir uns loslösen von der Liebe zu irdischen Dingen. Die Liebe des Herzens aber fühlt man im Herzen; die Liebe der Seele aber fühlt man nicht, sondern man erkennt sie, weil sie im Urteil der Seele besteht. Wer aber glaubt, dass bei Gott alles Gute ist und nicht Gutes außerhalb von ihm, der liebt Gott in seiner ganzen Seele.
Mit dem ganzen Geist Gott zu lieben bedeutet, dass alle Geisteskräfte für Gott frei sind; wessen Verstand nämlich Gott dient, wessen Weisheit sich um Gott dreht, wessen Denken sich mit göttlichen Dingen beschäftigt, wessen Gedächtnis sich an das erinnert, was gut ist, der liebt Gott mit seinem ganzen Geist. (Johannes Chrysostomus)

Gott lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzem Geist ist das erste Gebot, doch das zweite ist in gleichem Maße wichtig:

Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. (Mt 22,39)

Das Gebot der Nächstenliebe ist keine Erfindung Jesu. Jesus zitiert hier wörtlich Lev 19,18. Bereits die Zehn Gebote enthalten ja diese beiden Teile, auf der einen Seite die Gebote, die die Anerkennung Gottes betreffen, auf der anderen Seite die Gebote, die das Verhalten der Menschen untereinander regeln.

Denn auf diese zwei Gebote beziehen sich die Zehn Gebote; die Vorschriften der ersten Tafel nämlich beziehen sich auf die Liebe zu Gott, die der zweiten Tafel auf die Liebe zum Nächsten. (Hrabanus)

In den weiteren Ausführungen zu den Zehn Geboten wird dann immer wieder darauf hingewiesen, dass die Menschen sich umeinander kümmern sollen, dass sie nicht einander ausnutzen, sondern dass gerade den Armen und Schwachen geholfen werden muss, dass sie nicht zugrunde gehen. Im Buch Exodus heißt es:

Einen Fremden sollst du nicht ausnützen oder ausbeuten, denn ihr selbst seid in Ägypten Fremde gewesen. Ihr sollt keine Witwen und Waisen ausnützen. Wenn du sie ausnützt und sie zu mir schreit, werde ich auf ihren Klageschrei hören. Mein Zorn wird entbrennen, und ich werde euch mit dem Schwert umbringen, so dass eure Frauen zu Witwen und eure Söhne zu Waisen werden.
Leihst du einem aus meinem Volk, einem Armen, der neben dir wohnt, Geld, dann sollst du dich gegen ihn nicht wie ein Wucherer benehmen. Ihr sollt von ihm keinen Wucherzins fordern. Nimmst von einem Mitbürger den Mantel zum Pfand, dann sollst du ihn bis Sonnenuntergang zurückgeben; denn es ist seine einzige Decke, der Mantel, mit dem er seinen bloßen Leib bedeckt. Worin soll er sonst schlafen? Wenn er zu mir schreit, höre ich es, denn ich habe Mitleid. (Ex 22,20-26)

Gott selbst kümmert sich darum, dass die Schwachen und Armen nicht ausgebeutet werden. Die Propheten werden immer wieder zur Gerechtigkeit mahnen. Das Gebot der Nächstenliebe war also den Juden durchaus vertraut.
Die Besonderheit bei Jesus ist, dass er das Gebot der Nächstenliebe auf alle Menschen ausweitet. Bei den Juden bezog es sich zunächst nur auf die Mitglieder des eigenen Volkes, allenfalls noch auf die Fremden, die das Gastrecht genossen. Aber mit den Heiden wollte man nichts zu tun haben, man grenzte sich ihnen gegenüber ab und da endete in den meisten Fällen auch das Gebot der Nächstenliebe. In Jesus Christus aber erkennen wir, dass Nächstenliebe keine Grenzen hat, dass sie sich auch auf die Menschen beziehen muss, denen wir ablehnend genüberstehen, ja dass sie auch unsere Feinde mit einschließen muss. Nur wer zu dieser Liebe zu den Menschen bereit ist, kann auch Gott wahrhaft lieben. Sonst bleibt unser Gottesdienst eine leere Formel.

Alle Menschen sind Gottes Kinder, er liebt sie unendlich. Es ist also unmöglich, Gott zu lieben, ohne die Menschen zu lieben. Je größer die Liebe zu Gott, desto größer die Liebe zu den Menschen. In den letzten Stunden seines Lebens hat Jesus uns aufgetragen: "Meine Kinder, liebt einander. Daran wird man erkennen, dass ihr zu mir gehört, wenn ihr einander liebt" (vgl. Joh 13,34f).
Liebe zu Gott, Liebe zu den Menschen, darin liegt mein ganzes Leben, darin wird es immer bestehen, hoffe ich. (Charles des Foucauld)

Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst. Wenn wir genau hinsehen, kommt noch eine dritte Liebe hinzu, die Selbstliebe. Nur wer sich selbst liebt, sich selbst annehmen kann, wird fähig sein zu einer reinen Liebe anderen Menschen gegenüber und letztlich auch zu Gott.

An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten. (Mt 22,40)

Zur Erklärung dieses Satzes haben die Väter oft einen Satz aus Kohelet herangezogen. Dort heißt es:

Eine dreifache Schnur reißt nicht so schnell. (Koh 4,12)

An einem Seil, das aus drei Strängen geflochten ist, kann man schwere Lasten befestigen. Kohelet spricht in diesem Zusammenhang von einem Menschen, der allein ist. Wer allein ist, der hat keinen, der ihn wärmt und keinen, der ihm hilf, wenn er in Not gerät. Zwei Menschen können sich gegenseitig beistehen, doch es braucht auch noch den "Dritten im Bunde", um wirklich Halt und Festigkeit zu erlangen. Dieser Dritte ist Gott. Wenn wir ihn in unser Leben einlassen, werden wir ungeahnte Kräfte entdecken, die wir nicht aus eigener Anstrengung aufbringen können.
Immer wieder wurde das Zitat aus Kohelet auf das dreifache Gebot der Liebe angewendet, von dem Jesus im heutigen Evangelium spricht. Unser Leben ist im Einklang, wenn sich die Liebe zu uns selbst, die Liebe zum Nächsten und die Liebe zu Gott miteinander verbinden. Das verleiht uns Festigkeit.
Wenn wir uns selbst nicht lieben, geraten wir schnell in Gefahr, den verschiedensten Arten von Ängsten und Abhängigkeiten zu verfallen. Daher ist es wichtig, dass wir an uns selbst arbeiten, dass wir ehrlich auf uns schauen und mit uns im Reinen sind. Das ist ein schwieriger Prozess, der ein ganzes Leben dauern kann.
Der Blick auf uns selbst darf uns aber nicht den Blick auf den Nächsten verstellen. Doch wahre Nächstenliebe ist nur dann möglich, wenn wir uns selbst annehmen können. Sonst geraten menschliche Beziehungen schnell in Gefahr, zu Abhängigkeiten zu werden. Nur wer in sich selbst fest steht, kann den anderen als eigenständige Persönlichkeit annehmen und ihm selbstlose Liebe erweisen.
Die Quelle aber, aus der wir die Kraft dafür schöpfen, uns selbst anzunehmen und den Nächsten zu lieben wie uns selbst, ist Gott. Er ist - um im Bild zu bleiben - der dritte Strang, der zwischen uns und dem Nächsten gewoben wird und so erst dem Seil die nötige Festigkeit verleiht. An diesem Seil, das aus den Strängen der Liebe zu Gott, zum Nächsten und zu uns selbst geflochten ist, kann dann alles andere befestigt werden, ohne dass das Seil reißt. Wir dürfen das Wort Jesu ganz wörtlich deuten: "An diesen Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten." Wo nicht dieser Einklang der Liebe besteht, sind Gebote nur erdrückende Forderungen, anstatt Hilfen für ein gelungenes Leben zu sein, sind die Worte der Propheten nur angstmachende Drohungen, anstatt der liebevolle Ruf Gottes zur Umkehr.
Vielleicht denken wir manchmal, dass der Blick auf Gott uns den Blick auf unsere Mitmenschen verstellt. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Wenn wir Gott in unsere Beziehungen zu den Menschen mit hinein nehmen, wird er sie segnen und uns in den Krisen helfen. Wenn wir Gott mit an den Arbeitsplatz nehmen, wird er unsere Arbeit segnen und ihr Gelingen schenken. Wenn wir Gott in unser Leben nehmen, werden wir ein Segen sein für unsere Mitmenschen, ja wir selbst werden gesegnet sein. Wenn wir mit uns selbst im Reinen sind und Gott in unserem Herzen tragen, dann geht die Liebe, die Gott uns schenkt, hinaus in die Welt.

Nachdem Jesus gezeigt hat, wie schwer es den Pharisäern fällt, Gottes Gebote zu verstehen, zeigt er ihnen noch eine andere Frage, an der sich die Geister scheiden. Wie ist es mit dem Messias? Bis heute trennt die Antwort auf diese Frage Juden und Christen.

Danach fragte Jesus die Pharisäer, die bei ihm versammelt waren: Was denkt ihr über den Messias? Wessen Sohn ist er? Sie antworteten ihm: Der Sohn Davids.
Er sagte zu ihnen: Wie kann ihn dann David, vom Geist (Gottes) erleuchtet, "Herr" nennen? Denn er sagt: Der Herr sprach zu meinem Herrn: Setze dich mir zur Rechten und ich lege dir deine Feinde unter die Füße. Wenn ihn also David "Herr" nennt, wie kann er dann Davids Sohn sein?
Niemand konnte ihm darauf etwas erwidern und von diesem Tag an wagte keiner mehr, ihm eine Frage zu stellen. (Mt 22,41-46)