Ein Mann war krank, Lazarus aus Betanien, dem Dorf, in dem Maria und ihre Schwester Marta wohnten. Maria ist die, die den Herrn mit Öl gesalbt und seine Füße mit ihrem Haar abgetrocknet hat; deren Bruder Lazarus war krank. Daher sandten die Schwestern Jesus die Nachricht: Herr, dein Freund ist krank. (Joh 11,1-3)
Betanien ist ein kleines Dorf nahe bei Jerusalem. Dort hatte Jesus Freunde, Marta, Maria und Lazarus. Bei ihnen wird auch in den letzten Tagen vor seinem Leiden zu Gast sein. Dass Jesus Freunde hatte, zeigt uns seine menschliche Seite. Wie alle Menschen, so hatte auch Jesus Menschen um sich, bei denen er sich wohl fühlen konnte, die zu seinem engsten Freundeskreis zählten. Das waren nicht nur die Zwölf Apostel, die alles verlassen hatten, um ihm nachzufolgen, sondern auch ganz "normale" Menschen, die "in der Welt" lebten und ihrer Arbeit nachgingen. Freunde Jesu sein, das ist auch unsere Berufung. Jesus ist nicht nur Herr und Gott, sondern auch Freund der Menschen.
Maria, Marta und Lazarus kennen wir aus dem Lukasevangelium, wenn auch aus einem etwas anderen Zusammenhang. Dort sind Maria und Marta zwei Schwestern, die mit Jesus befreundet sind. Marta kümmert sich um Jesus und seine Jünger, während Maria den Worten Jesu lauscht (Lk 11,1-4). In beiden Szenen erscheint Marta die aktivere der beiden Schwestern zu sein. Lazarus hingegen ist im Lukasevangelium der Name eines armen Bettlers, der nach seinem Tod in Abrahams Schoß getragen wird (Lk 16,19-31). Auch wenn der Zusammenhang ein anderer ist, geht es in beiden Szenen um die Auferstehung.
Der nun folgende Bericht über die Auferweckung des Lazarus steht in einem engen Bezug zu Jesu Tod und Auferstehung, die nahe bevorstehen. Bald wird die Stunde da sein, in der Jesus wieder zum Vater geht. Diese Stunde wird die Stunde seines Todes sein, aber zugleich die Stunde, in der er durch seinen Tod den Tod besiegt und selbst aus dem Tod als Lebender aufersteht und dieses Leben allen schenkt, die an ihn glauben. Gerade die Auferweckung des Lazarus wird, wie wir am Ende der Geschichte hören, ein wichtiger Grund dafür sein, dass seine Gegner ihn schnellstmöglich aus dem Weg schaffen wollen.
Leben und Tod, sie liegen oft so nahe beieinander. Menschen riskieren ihr eigenes Leben, um das Leben anderer zu retten, der Tod von Müttern bei der Geburt ihrer Kinder ist keine Seltenheit. Wir fragen uns sicher oft, warum manche Menschen bei Katastrophen sterben müssen, während andere mit dem Leben davonkommen. Der Tod scheint Leben zu vernichten. Doch Jesus nimmt dem Tod seine Macht. Was das bedeutet, zeigt anschaulich die Auferweckung des Lazarus. Sie gibt einen Vorgeschmack von dem, was Erlösung bedeutet. Sie zeigt uns, dass wir als Christen den Tod nicht mehr fürchten müssen.
Als Jesus das hörte, sagte er: Diese Krankheit wird nicht zum Tod führen, sondern dient der Verherrlichung Gottes: Durch sie soll der Sohn Gottes verherrlicht werden. Denn Jesus liebte Marta, ihre Schwester und Lazarus. Als er hörte, dass Lazarus krank war, blieb er noch zwei Tage an dem Ort, wo er sich aufhielt. Danach sagte er zu den Jüngern: Lasst uns wieder nach Judäa gehen. (Joh 11,4-7)
Jesu Freunde schicken ihm die Nachricht, dass Lazarus krank ist. Doch Jesus macht es spannend. Er eilt nicht sogleich nach Betanien, um Lazarus zu heilen, sondern wartet noch zwei Tage ab. Erst am dritten Tag geht er hin und weckt Lazarus auf. Am dritten Tag wird er auch selbst auferstehen. Als Jesus dann endlich in Betanien ankommt, ist Lazarus schon vier Tage im Grab. Nach alter Tradition glaubte man, dass die Seele am dritten Tag endgültig den Körper verlässt. Daher wollen die vier Tage im Grab nichts anderes sagen, als dass ein Scheintod ausgeschlossen ist und Lazarus wirklich gestorben ist.
Diese Gelassenheit Jesu, mit der er das Sterben seines Freundes geschehen lässt, hat mich in diesem Evangelium am meisten beschäftigt. Alle anderen um ihn herum zeigen eine gewisse Aufregung. Die beiden Schwestern sind wegen des Kummers um die Krankheit und den Tod ihres Bruders ganz aufgelöst. Die Jünger sind besorgt, als sich Jesus dazu entscheidet, nach Judäa zurückzukehren. Sie wissen, dass man dort danach trachtet, ihn zu töten.
Jesus aber bleibt ruhig. Es ist die Ruhe eines Menschen, der darum weiß, dass in allem der Wille seines Vaters im Himmel geschieht und dass dieser Wille das Gute möchte. Er erkennt den tieferen Sinn hinter dem Leid, das wir oft nicht verstehen können. Das, was hier geschieht, dient der Verherrlichung Gottes.
Es bestehen viele Verbindungen zwischen der Lazarus-Geschichte und der Heilung eines Blinden, von der Johannes im 9. Kapitel berichtet hat. Dort sagt Jesus, dass die Blindheit dieses Menschen dazu dient, dass das Wirken Gottes an dem Blinden offenbar werden soll. Damals ging es um die Frage, ob die Krankheit eine Folge der Sünde ist, was Jesus entschieden verneint hat. Nun geht es um die Frage, ob Gott wirklich die Menschen liebt, wenn es doch so viel Leid und Tod in der Welt gibt.
Jesus ist selbst durch alles Leiden hindurch gegangen und hat einen qualvollen Tod erlitten. Nun gibt es kein Leid und keinen Schmerz mehr, der fern von Gott wäre. Auch wenn Gott auf dem ersten Blick nicht zu helfen scheint, dürfen wir doch sicher sein, dass er mit uns durch alle Situationen unseres Lebens geht, die guten und die schlimmen. Gott ist immer nahe, er ist immer ansprechbar, er verlässt uns nicht.
Versuchen wir, uns die Geduld Jesu zu eigen zu machen, die auf dem Vertrauen beruht, dass Gott immer das Gute will. Oft geben wir zu früh auf, und lassen so Gott nicht den Raum, uns zu helfen. Es kann sein, dass Gott von uns erwartet, manche schweren Situationen durchzustehen. Aber auch dann dürfen wir sicher sein: er ist da und in Gottes Plan gibt es einen Weg aus Leid und Not, nicht erst im Jenseits, sondern hier und jetzt.
Als sich Jesus schließlich auf den Weg nach Betanien macht, verstehen ihn seine Jünger nicht mehr. Warum begibt er sich selbst und sie in Gefahr? Es ist bereits deutlich geworden, dass die religiösen Führer in Jerusalem darauf aus sind, Jesus zu töten.
Die Jünger entgegneten ihm: Rabbi, eben noch wollten dich die Juden steinigen, und du gehst wieder dorthin? Jesus antwortete: Hat der Tag nicht zwölf Stunden? Wenn jemand am Tag umhergeht, stößt er nicht an, weil er das Licht dieser Welt sieht; wenn aber jemand in der Nacht umhergeht, stößt er an, weil das Licht nicht in ihm ist. So sprach er. Dann sagte er zu ihnen: Lazarus, unser Freund, schläft; aber ich gehe hin, um ihn aufzuwecken. Da sagten die Jünger zu ihm: Herr, wenn er schläft, dann wird er gesund werden. Jesus hatte aber von seinem Tod gesprochen, während sie meinten, er spreche von dem gewöhnlichen Schlaf. Darauf sagte ihnen Jesus unverhüllt: Lazarus ist gestorben. Und ich freue mich für euch, dass ich nicht dort war; denn ich will, dass ihr glaubt. Doch wir wollen zu ihm gehen. (Joh 11,8-15)
Wie in vielen Berichten des Johannesevangeliums verwendet Jesus auch hier ein Lichtwort. Noch ist es Tag. Noch kann er das Gute wirken. Noch kann er die Augen der Blinden öffnen und den Toten aus seinem Schlaf wecken. Hatten wir zunächst nur die Information, dass Lazarus krank ist, so weiß Jesus nun um seinen Tod. Er weiß auch, dass sein eigener Tod bevorsteht. Wissend begibt er sich in diese gefährliche Situation. Er hat in der Hand, was geschieht, denn es wird der Wille des Vaters sein. Die Stunde rückt näher und Jesus weicht ihr nicht aus.
Damals wie heute verstehen viele nicht, warum das so sein musste, warum Jesus sterben musste. Ist er nicht gerade dazu gekommen, das Leben zu bringen? Wenn wir seine Wunder sehen, wie er Menschen glücklich gemacht hat, wie er sie geheilt hat von körperlichen und seelischen Gebrechen, wie er Ausgestoßene in die Gemeinschaft zurückgeführt hat, wie er mit den Menschen gegessen und getrunken hat, so war das alles ein großes Fest des Lebens. Hätte es nicht immer so weiter gehen können, bis die ganze Welt glücklich bei diesem Fest des Lebens mitgefeiert hätte? Doch nun klopft der Tod an die Tür, bei Jesus und bei seinen Freunden. Der Tod hat immer noch ein gehöriges Wort mitzureden. Das Fest des Lebens wurde ohne ihn gefeiert, nun fordert er seinen Tribut, stört das Fest wie ein ungebetener Gast, den man ausgesperrt hat und der auf Rache sinnt.
Der Tod fordert seinen Tribut, er stört das Fest des Lebens, bringt die Feiernden ordentlich durcheinander, ja er wird sogar den Gastgeber herausfordern, doch am Ende wird der Tod unterliegen, seine Macht ist am Ende. Ja, er wird sich weiterhin die Menschen holen, doch halten kann er sie nicht mehr. Hat er sie einmal erwischt, so entgleiten sie sofort wieder seinen Händen. Jesus wird durch seinen Tod den Weg durch den Tod hindurch öffnen. Nach der finsteren Tür des Todes wartet das helle Tor der Auferstehung, das alle Schrecken des Todes ungeschehen macht und zu neuem Leben führt.
Da sagte Thomas, genannt Didymus - Zwilling -, zu den anderen Jüngern: Dann lasst uns mit ihm gehen, um mit ihm zu sterben. (Joh 11,16)
Spricht aus diesem Satz des Apostels Thomas nicht eine gewisse Resignation? Es ist sicher kein Zufall, dass gerade Thomas dies sagt, denn er ist es auch, der an der Auferstehung Jesu zweifeln wird und dem der Herr eigens noch einmal erscheint, um ihn von der Wirklichkeit der Auferstehung zu überzeugen. Thomas beginnt zu zweifeln und wer weiß wie viele noch mit ihm. Hatte Jesus vielleicht nur eine gewisse Zeit Glück, so dass er die Menschen begeistern konnte, ist aber letztlich auch nicht anders als die anderen Menschen, derer Glückssträhne irgendwann einmal vorbei ist? Ist nun alles zu Ende und haben sie ihre Hoffnung wieder einmal auf den Falschen gesetzt?