Wer an die Texte des Johannesevangeliums allein mit geradlinigem rationalen Denken herangeht, wird ihren Sinn nicht erfassen. Johannes verwendet Bildworte, die er dann aus verschiedenen Sichtweisen betrachtet. Die einzelnen Betrachtungen ergänzen einander und lassen so das Bild umso deutlicher erscheinen. So ist es auch mit dem Bild vom Guten Hirten. Wer nur einseitig denkt, wird sich schnell verwirren lassen davon, dass sich Jesus beispielsweise einerseits mit dem Guten Hirten identifiziert, dann aber auch die Tür ist, durch die die Schafe ein- und ausgehen.
Indem Jesus sich als der Gute Hirte bezeichnet, stellt er sich in die Tradition der Gottesbilder des Alten Testaments. Bereits dort wurde Gott als der Hirte seines Volkes gesehen. Besonders deutlich wird dies bei den Propheten Ezechiel (Ez 34-37) und Sacharia (Sach 13) und im bekannten Psalm 23. Hirte sein, das war im Orient auch das Bild für den Herrscher. In der alten lateinischen Fassung beginnt der Psalm 23 mit den Worten: Dominus regit me. Regere - herrschen, leiten - ist verwandt mit rex - König. Der Herr ist mein Hirte, er führt mich, er leitet mich, er sorgt für mich.
Das Bild von Jesus als dem guten Hirten erfreut sich seit frühesten Zeiten größter Beliebtheit und ist vielleicht eine der ältesten Darstellungen, die sich Christen von Jesus gemacht haben. In den Katakomben von Rom finden wir über 140 mal dieses Bild. Was fasziniert die Christen bis heute daran? Die folgenden Texte und Betrachtungen sollen helfen, das Bild vom Guten Hirten in verschiedenen Facetten aufscheinen zu lassen und besser zu verstehen.
Amen, amen, das sage ich euch: Wer in den Schafstall nicht durch die Tür hineingeht, sondern anderswo einsteigt, der ist ein Dieb und ein Räuber. (Joh 10,1)
Die Rede Jesu vom guten Hirten beginnt nicht mit einem melancholischen Bild verklärter Hirtenromantik. Sie zeigt vielmehr zunächst die Gefahr durch falsche Hirten auf. Diebe und Räuber brechen in den Schafstall ein, falsche Hirten suchen nur den schnellen eigenen Gewinn, indem sie die Herde schlachten und verschachern. Die Herde ist ständig in Gefahr, und der Schaden, der von innen, von falschen Hirten droht, scheint größer als die Gefahr von außen.
Johannes hat hier sicher die Situation der Gemeinden seiner Zeit vor Augen. Spaltungen und schlechte Vorsteher bedrohten ihren Bestand. Auch in den Johannesbriefen hören wir von diesen Gefahren. Der gute Hirte aber ist mit seinen Schafen vertraut. Er braucht nicht heimlich in den Schafstall einzudringen, sondern kann offen durch die Türe gehen. Diese Tür zu den Schafen ist Jesus Christus. Ihm gehört die Herde und jeder Hirte muss sie in seinem Namen führen.
Wer aber durch die Tür hineingeht, ist der Hirt der Schafe. (Joh 10,2)
Der Blick auf die Gefahren, die durch falsche Hirten entstehen, die negativen Erfahrungen mit Hirten, lassen bei vielen die Frage aufkommen, ob es denn überhaupt einen Hirten für die Herde braucht. Die Vollmacht des Hirten ist mit Macht verbunden. Macht aber hat für viele einen negativen Beigeschmack, weil sie auf der anderen Seite den Gehorsam fordert. Zudem erscheint eine Herde als eine gleichförmige Masse, die blind ihrem Hirten folgt. Die Herde, das sind doch die, die selber nicht nachdenken und einfach hinterher laufen. Das widerspricht dem Verlangen vieler Menschen nach Unabhängigkeit und Freiheit. Doch ist es wirklich das, was Jesus meint, wenn er vom guten Hirten spricht?
Uns Menschen heute ist ein Hirt mit seiner Herde bei weitem nicht mehr so vertraut, wie den Menschen zur Zeit Jesu. Würde man einen guten Hirten - und von solch einem spricht Jesus ja - fragen, was er von seinen Tieren hält, so wird er sie sicher nicht als eine dumme, blökende Masse bezeichnen. Der gute Hirt kennt jedes einzelne Tier aus seiner Herde. Er weiß, wieviel er jedem einzelnen zumuten kann. Er darf die Herde nie schneller und weiter führen, als es das schwächste Tier verkraftet. Er merkt sofort, wenn einem Tier etwas fehlt, er sucht das Verirrte.
Wenn er alle seine Schafe hinausgetrieben hat, geht er ihnen voraus, und die Schafe folgen ihm; denn sie kennen seine Stimme. (Joh 10,4)
Was könnte besser die Vertrautheit des Hirten mit den Schafen zum Ausdruck bringen als dieses Bild. Die Schafe kennen die Stimme des Hirten, und daher folgen sie ihm. Sie folgen nicht blind jedem Hirten, sie kennen genau seine Stimme. Sie mussten sich erst an ihn gewöhnen. Nun, da sie ihn kennen, folgen sie ihm, weil sie wissen, dass er sie stets den richtigen Weg zu grünen Weiden und frischem Wasser führt. Der Hirte aber kennt jedes einzelne Tier seiner Herde. Er weiß, dass jedes Tier anders ist und schon allein deshalb ist die Herde für ihn mehr als eine gleichförmige Masse.
Hirten im übertragenen Sinn sind alle Menschen, die Verantwortung für andere tragen, die andere Menschen führen und leiten. Um ein guter Hirte zu sein, ist dieses vertraute Verhältnis zu den anvertrauten Menschen unerlässlich. Wer andere Menschen führt, muss diese kennen, ihre Stärken und Schwächen, er muss wissen, wieviel er jedem einzelnen zutrauen kann, wen er besonders fördern muss.
Ein guter Hirte muss aber auch seine Herde zusammenhalten können und dazu gehört Autorität. Wenn sich die Herde zerstreut, kann der Hirte nicht mehr für sie sorgen. Nur, wenn die Herde zusammen bleibt, hat er die Möglichkeit, sich auch um jeden einzelnen zu kümmern. Menschen, die andere führen, müssen um diese Gabe der liebevollen Strenge bitten und um die Vertrautheit mit den Menschen.
Der Herr ist mein Hirte,
nichts wird mir fehlen.
Er lässt mich lagern
auf grünen Auen und führt mich
zum Ruheplatz am Wasser.
Er stillt mein Verlangen;
er leitet mich auf rechten Pfaden,
treu seinem Namen.
Muss ich auch wandern
in finsterer Schlucht,
ich fürchte kein Unheil;
du bist ja bei mir,
dein Stock und dein Stab
geben mir Zuversicht.
Du deckst mir den Tisch
vor den Augen meiner Feinde.
Du salbst mein Haupt mit Öl,
du füllst mir reichlich den Becher.
Lauter Güte und Huld werden
mir folgen mein Leben lang
und im Haus des Herrn
darf ich wohnen für lange Zeit.
(Psalm 23)