Jesaja 5,1-30

Weinberglied, Zorn

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Weinberg
Ich will ein Lied singen von meinem geliebten Freund, ein Lied vom Weinberg meines Liebsten. (Jes 5,1a)

Mit dem Weinberglied beginnt die sogenannte Immanuelschrift. Sie umfasst den Abschnitt Jesaja 5,1-9,6 und gilt als Kern der Worte des Propheten. Im Mittelpunkt steht die Verheißung des Immanuel (Jes 7,1-25). Das Weinberglied (Jes 5,1-7) stellt den kunstvollen Prolog zu dieser Schrift dar. Es folgen Wehrufe und Worte des Zorns über Israel (Jes 5,8-30). Die Wichtigkeit der Immanuel-Verheißung wird durch die Schilderung der Berufung des Propheten (Jes 6,1-13) verstärkt.
Der Prophet singt ein Lied von einem Weinberg, dem Weinberg eines Freundes. Am Ende des Liedes wird kein Geringerer als der Herr der Heere, der Gott Israels, als der Besitzer des Weinbergs genannt. Der Weinberg ist das Haus Israel. Aber auch ohne diese Erklärung wird sofort klar, dass der Prophet über das Verhältnis Gottes zu seinem Volk spricht.
Das Lied beginnt als Liebeslied, es wird der geliebte Freund genannt und seine Fürsorge für den Weinberg. In seiner Liebe tut er alles erdenklich mögliche, um einen hohen Ertrag aus dem Weinberg zu erzielen. Er wählt einen fruchtbaren, hochgelegenen Platz, in dem die auf guten Boden gepflanzten Rebstöcke die besten Bedingungen zu gutem Wachstum haben. Er entfernt Steine, baut eine schützende Mauer und eine Kelter.

Mein Freund hatte einen Weinberg auf einer fruchtbaren Höhe. Er grub ihn um und entfernte die Steine und bepflanzte ihn mit den edelsten Reben. Er baute mitten darin einen Turm und hieb eine Kelter darin aus. Dann hoffte er, dass der Weinberg süße Trauben brächte, doch er brachte nur saure Beeren. (Jes 5,1b-2)

Plötzlich auf seinem Höhepunkt bricht das Liebeslied abrupt ab. Es ist etwas geschehen, was diese Liebe stört. Der Weinberg bringt statt der süßen Trauben nur saure und faulige Beeren hervor. Warum? Woran liegt es, dass die erhofften Früchte für einen guten Wein ausbleiben? Eines steht fest: es liegt nicht an der mangelhaften Fürsorge des Besitzers. Er hat alles Nötige und mehr als das getan. Der Prophet ruft die Einwohner Judas und Jerusalems auf, sich selbst ihr Urteil zu bilden über das, was hier geschehen ist.

Nun sprecht das Urteil, Jerusalems Bürger und ihr Männer von Juda, im Streit zwischen mir und dem Weinberg! Was konnte ich noch für meinen Weinberg tun, das ich nicht für ihn tat? Warum hoffte ich denn auf süße Trauben? Warum brachte er nur saure Beeren?
Jetzt aber will ich euch kundtun, was ich mit meinem Weinberg mache: Ich entferne seine schützende Hecke; so wird er zur Weide. Seine Mauer reiße ich ein; dann wird er zertrampelt. Zu Ödland will ich ihn machen. Man soll seine Reben nicht schneiden und soll ihn nicht hacken; Dornen und Disteln werden dort wuchern. Ich verbiete den Wolken, ihm Regen zu spenden. (Jes 5,3-6)

Dem Besitzer des Weinbergs ist die Freude an seinem Weinberg vergangen. All seine Kraft und Fürsorge hat er in ihn gesteckt und doch wollte keine süße Beere darin reifen. In seiner Wut zerstört er den Weinberg. Er entfernt seinen Schutz, so dass Tiere die Reben fressen und zertrampeln. Ohne Pflege verkommen die Reben und werden von Dornen und Disteln überwuchert. Der grüne Weinberg wird zum Ödland, nicht einmal mehr Regen fällt auf ihn.

Ja, der Weinberg des Herrn der Heere ist das Haus Israel und die Männer von Juda sind die Reben, die er zu seiner Freude gepflanzt hat. Er hoffte auf Rechtsspruch - doch siehe da: Rechtsbruch, und auf Gerechtigkeit - doch siehe da: Der Rechtlose schreit. (Jes 5,7)

Wie aus einem sorgfältig angelegten Weinberg ein Stück Ödland werden kann, konnten sich damals alle Leute vorstellen, haben es vielleicht schon selbst gesehen. Auch für uns ist dies ein leicht verständliches Bild. Wie diesem Weinberg wird es Juda und Jerusalem ergehen. Das einst blühende Land wird von den Feinden verwüstet. Schuld daran sind seine Bewohner, vor allem die Mächtigen, die das Recht brechen und nur ihren eigenen Gewinn suchen. In den folgenden Wehrufen wird der Prophet dies noch präzisieren.
Jesaja sagt zu einer Zeit, in der es Juda und Jerusalem noch relativ gut gegangen ist, der Stadt und dem Land den Untergang voraus. Es sind harte Worte, die niemand hören wollte. Doch Jesaja muss sie sagen, denn so, wie es jetzt ist, kann es nicht weitergehen. Doch er prophezeit nicht nur den Untergang, sondern auch den Neuanfang, den Gott mit seinem Volk machen wird in der Gestalt des Emmanuel, des "Gott mit uns".
Immer wieder braucht es Menschen, die ihren Finger auf die Wunde der Gesellschaft legen. Immer wieder wächst die Ungerechtigkeit in Staaten, wenn der Wohlstand wächst, aber die Mächtigen immer mehr für sich beanspruchen und die Zahl der Armen steigt. Immer wieder führt ein solches Szenario in die Katastrophe und es braucht einen Neuanfang. Echte Propheten zeigen neben ihrer Kritik auch die Chance dieses Neuanfangs auf. Gott führt die Menschen nicht ins Verderben, sondern er will die Rettung der Menschen.
Aus christlicher Sicht wird die Verheißung des Emmanuel auf Jesus Christus hin gedeutet. Er ist der "Gott mit uns", in dem Gott den Menschen auf unüberbietbare Weise seine Nähe zeigt. Auch das Weinberglied hat einen Anklang im Neuen Testament, im Gleichnis von den bösen Winzern (Mt 21,33-46 und Parr.). In diesem Gleichnis wird Gott mit einem Gutsbesitzer verglichen, der genau wie im Weinberglied geschildert, einen Weinberg anlegt. Im Gleichnis aber sind es die vom Gutsbesitzer eingesetzten Verwalter, die ihm seinen Anteil an dem Ertrag verwehren. Der Weinberg bringt Frucht, aber die Verwalter wollen sie für sich allein, daher werden sie mit Gewalt abgelöst und der Weinberg anderen übergeben.

Weh euch, die ihr Haus an Haus reiht und Feld an Feld fügt, bis kein Platz mehr da ist und ihr allein im Land ansässig seid. Meine Ohren hören das Wort des Herrn der Heere: Wahrhaftig, alle eure Häuser sollen veröden. So groß und schön sie auch sind: Sie sollen unbewohnt sein. Ein Weinberg von zehn Morgen bringt nur ein Bat Wein, ein Homer Saatgut bringt nur ein Efa Korn.
Weh euch, die ihr schon früh am Morgen hinter dem Bier her seid und sitzen bleibt bis spät in die Nacht, wenn euch der Wein erhitzt. Bei ihren Gelagen spielt man Zither und Harfe, Pauken und Flöten; aber was der Herr tut, beachten sie nicht, was seine Hände vollbringen, sehen sie nicht.
Darum muss mein Volk in die Verbannung; denn es hat keine Erkenntnis. Seine Reichen sterben vor Hunger, die Masse der Armen verschmachtet vor Durst. Darum sperrt die Unterwelt ihren Rachen auf, maßlos weit reißt sie ihr Maul auf, sodass des Volkes Pracht und Reichtum hinabfährt, der ganze lärmende, johlende Haufen.
Die Menschen müssen sich ducken, jeder Mann muss sich beugen, die stolzen Augen werden sich senken. Doch der Herr der Heere ist erhaben, wenn er Gericht hält, durch seine Gerechtigkeit erweist der heilige Gott sich als heilig.
Dann grasen dort Lämmer wie auf der Weide, in den Ruinen weiden fette Schafe. Weh euch, die ihr die Strafe wie mit Ochsenstricken herbeizieht und die Sünde wie mit Wagenseilen. Ihr sagt: Was er tun will, das tue er schnell; er soll sich beeilen, damit wir es sehen; was der Heilige Israels plant, treffe bald ein; wir wollen es wissen.
Weh denen, die das Böse gut und das Gute böse nennen, die die Finsternis zum Licht und das Licht zur Finsternis machen, die das Bittere süß und das Süße bitter machen. Weh denen, die in ihren eigenen Augen weise sind und sich selbst für klug halten. Weh denen, die Helden sind, wenn es gilt, Wein zu trinken, und tapfer, wenn es gilt, starke Getränke zu brauen, die den Schuldigen für Bestechungsgeld freisprechen und dem Gerechten sein Recht vorenthalten.
Darum: Wie des Feuers Zunge die Stoppeln frisst und wie das Heu in der Flamme zusammensinkt, so soll ihre Wurzel verfaulen und ihre Blüte wie Staub aufgewirbelt werden. Denn sie haben die Weisung des Herrn der Heere von sich gewiesen und über das Wort des Heiligen Israels gelästert.
Darum entbrennt der Zorn des Herrn gegen sein Volk; er streckt seine Hand aus gegen das Volk und schlägt zu. Da erzittern die Berge und die Leichen liegen auf den Gassen wie Abfall. Doch bei all dem lässt sein Zorn nicht nach, seine Hand bleibt ausgestreckt. Er stellt ein Feldzeichen auf für ein Volk in der Ferne, er pfeift es herbei vom Ende der Erde und schon kommen sie eilig heran. Kein Müder ist unter ihnen, keiner, der stolpert, keiner, der einnickt und schläft. Bei keinem löst sich der Gürtel von den Hüften, noch reißt ein Schuhriemen ab. Ihre Pfeile sind scharf, alle ihre Bogen gespannt. Die Hufe ihrer Pferde sind hart wie Kiesel, die Räder sausen dahin wie der Sturm. Es ist ein Lärm wie das Brüllen des Löwen, wie wenn ein Junglöwe brüllt. Er knurrt und packt seine Beute, er schleppt sie fort und niemand reißt sie ihm weg. Und es dröhnt über ihnen an jenem Tag wie das Brausen des Meeres. Wohin man blickt auf der Erde: nur Finsternis voller Angst; das Licht ist durch Wolken verdunkelt. (Jes 5,8-30)