Jesaja 6,1-13

Berufung

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Jesaja
1Im Todesjahr des Königs Usija sah ich den Herrn. Er saß auf einem hohen und erhabenen Thron. Der Saum seines Gewandes füllte den Tempel aus. 2Serafim standen über ihm. Jeder hatte sechs Flügel: Mit zwei Flügeln bedeckten sie ihr Gesicht, mit zwei bedeckten sie ihre Füße und mit zwei flogen sie.
3Sie riefen einander zu: Heilig, heilig, heilig ist der Herr der Heere. Von seiner Herrlichkeit ist die ganze Erde erfüllt. 4Die Türschwellen bebten bei ihrem lauten Ruf und der Tempel füllte sich mit Rauch.
5Da sagte ich: Weh mir, ich bin verloren. Denn ich bin ein Mann mit unreinen Lippen und lebe mitten in einem Volk mit unreinen Lippen und meine Augen haben den König, den Herrn der Heere, gesehen.
6Da flog einer der Serafim zu mir; er trug in seiner Hand eine glühende Kohle, die er mit einer Zange vom Altar genommen hatte. 7Er berührte damit meinen Mund und sagte: Das hier hat deine Lippen berührt: Deine Schuld ist getilgt, deine Sünde gesühnt.
8Danach hörte ich die Stimme des Herrn, der sagte: Wen soll ich senden? Wer wird für uns gehen? Ich antwortete: Hier bin ich, sende mich! (Jes 6,1-8)

Das Kapitel 6 des Jesajabuches schildert die Berufung des Propheten. In den vorangegangenen Kapiteln hat der Leser des Buches bereits Wesentliches über die Verkündigung des Propheten erfahren. Diese Worte sind wichtiger als die Berufung des Propheten an sich, der auch sonst als historische Person ganz hinter seinen Worten zurücktritt. Das Todesjahr des Königs Usija, in dem die Berufung des Jesaja erfolgte, lässt sich auf das Jahr 739 v.Chr. (nach anderen Berechnungen 734 v.Chr.) datieren.
Jesaja erfährt Gott als den großen und erhabenen Herrscher. Er sitzt auf einem mächtigen Thron. Allein der Saum seines Gewandes füllt den Tempel aus. Für die Menschen der damaligen Zeit war der Tempel in Jerusalem ein Bauwerk von alles überragender Größe. Und wie groß muss dann erst Gott sein, wenn ein kleiner Teil seines Gewandes schon diesen riesigen Tempel füllt.
Gottes Erscheinen ist begleitet von mächtigen Engeln. Die Seraphim bilden den obersten der neun Chöre der Engel. Ihr Name bedeutet „die Brennenden“. Sie befinden sich in unmittelbarer Nähe Gottes. Sie besitzen sechs Flügel, mit zweien bedecken sie ihr Gesicht, denn wie alle Wesen dürfen auch sie das Angesicht Gottes nicht schauen, mit zweien bedecken sie ihre Füße, was wohl bedeutet, dass sie sich von Kopf bis Fuß mit den Flügeln bedecken, und mit zweien fliegen sie. Ihr Lobpreis Gottes erschallt so laut, dass die Türschwellen des Tempels erbeben. Es ist ein dreifaches „Heilig, heilig, heilig“, das Gottes erhabene Größe jubelnd besingt.
Angesichts der Erhabenheit Gottes erkennt Jesaja seine Niedrigkeit und Sündigkeit. Er hält sich für unwürdig, vor Gott zu stehen. Vor Gott kann kein Mensch bestehen, jeder wäre verloren, würde Gott sich nicht dem Menschen zuwenden in seiner übergroßen Huld. Gott tilgt die Schuld des Propheten, indem ein Engel mit einer glühenden Kohle seine Lippen berührt. Jetzt ist Jesaja geläutert und bereit zum Dienst der Verkündigung: "Hier bin ich, sende mich!"

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Jesaja
9Da sagte er: Geh und sag diesem Volk: Hören sollt ihr, hören, aber nicht verstehen. Sehen sollt ihr, sehen, aber nicht erkennen. 10Verhärte das Herz dieses Volkes, verstopf ihm die Ohren, verkleb ihm die Augen, damit es mit seinen Augen nicht sieht und mit seinen Ohren nicht hört, damit sein Herz nicht zur Einsicht kommt und sich nicht bekehrt und nicht geheilt wird.
11Ich fragte: Wie lange, Herr? Er antwortete: Bis die Städte verödet sind und unbewohnt, die Häuser menschenleer, bis das Ackerland zur Wüste geworden ist. 12Der Herr wird die Menschen weit weg treiben; dann ist das Land leer und verlassen. 13Bleibt darin noch ein Zehntel übrig - auch sie werden schließlich vernichtet, wie bei einer Eiche oder Terebinthe, von der nur der Stumpf bleibt, wenn man sie fällt. [Ihr Stumpf ist heiliger Same.] (Jes 6,9-13)

Unmittelbar nach seiner Berufung erfährt der Prophet seinen Auftrag. Die Botschaft, die er zu überbringen hat, verheißt nichts Gutes. Der Ruf des Propheten wird nicht beim Volk ankommen, daher wird es nicht umkehren und so nimmt das Unheil seinen Lauf. Ja es scheint sogar der explizite Auftrag des Propheten zu sein, so aufzutreten, dass das Volk ihn nicht versteht. Wie kann das sein, dass Gott nicht alles daran setzt, die Herzen der Menschen zu öffnen, sondern sie noch weiter verschließt? Auch Jesus wird später diese Stelle zitieren.
Man kennt solche Situationen, in denen man hinterher sagt, warum habe ich das nicht gesehen? Man läuft gegen eine Wand und merkt es erst, wenn es knallt. Man hat den ganzen Tag das Gefühl, dass etwas Schlimmes passiert, merkt, dass es näher kommt, aber kann nichts dagegen tun, bis es geschehen ist. Man hat den Eindruck, dass manche Dinge einfach passieren müssen.
Wenn wir die Geschichte der Menschheit betrachten, so denken wir auch oft, warum ist es so weit gekommen. Warum zum Beispiel musste das Römische Reich untergehen? Warum hat man nicht dagegen gesteuert? Oder auch heute, wie konnte es dazu kommen, dass binnen kurzer Zeit der islamistische Terror die Welt in Bann hält und mehr und mehr Land gewinnt.
Die Geister, die man rief, geraten meist schnell außer Kontrolle. So war es auch zur Zeit des Jesaja. Es traten neue Reiche auf den Plan, suchten Bündnispartner, eroberten Gebiete. Die Welt des Nahen Ostens war schon immer in steter Bewegung. Kleine Reiche wie das Königreich Juda geraten da schnell zwischen die Mühlen der Großmächte.
Doch Gott wird sein Volk nicht vergessen. Auch wenn von dem stolzen Baum des Hauses Israel nur ein Stumpf übrig bleibt, so wird dieser Stumpf neu austreiben. Das vermutlich später hinzugefügte und daher in Klammern gesetzte Heilswort findet seine Erfüllung im 11. Kapitel. Manchmal braucht es einfach einen radikalen Neuanfang, weil alles so eingefahren ist und die Entwicklung an eine Grenze gestoßen ist.
Gott wird seine Zeichen setzten, er ergreift die Initiative, wenn das Volk in Resignation versinkt. Das zeigt auch der folgende Abschnitt.