Römerbrief 9,1-11,36

Rettung Israels

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Römer
Ich sage in Christus die Wahrheit und lüge nicht und mein Gewissen bezeugt es mir im Heiligen Geist: Ich bin voll Trauer, unablässig leidet mein Herz. Ja, ich möchte selber verflucht und von Christus getrennt sein um meiner Brüder willen, die der Abstammung nach mit mir verbunden sind. Sie sind Israeliten; damit haben sie die Sohnschaft, die Herrlichkeit, die Bundesordnungen, ihnen ist das Gesetz gegeben, der Gottesdienst und die Verheißungen, sie haben die Väter und dem Fleisch nach entstammt ihnen der Christus, der über allem als Gott steht, er ist gepriesen in Ewigkeit. Amen. (Röm 9,1-5)

In den Kapiteln 9 bis 11 des Römerbriefs befasst sich Paulus ausführlich mit dem Thema der Rettung Israels. Er selbst war Jude und suchte das Heil auf dem Weg der Gesetzesgerechtigkeit, bis Jesus ihm vor Damaskus erschien und seinem Leben eine neue Perspektive gab.
Jesus war Jude, die Apostel waren Juden, die ersten Christen waren Juden. Das Christentum ist aus dem Judentum hervorgegangen. Es baut auf die Heilige Schrift des Alten Bundes. Jesus Christus sieht sich in seinen Predigten als die Erfüllung der Verheißungen des Alten Bundes. Der Gott Israels ist sein Vater. Von seinem Vater ist er gesandt, dem Volk Israel das Heil zu bringen und von Israel ausgehend der ganzen Welt.
Die Gelehrten des Judentums waren da aber anderer Meinung. Die Mehrheit von ihnen sah in Jesus Christus nicht die Erfüllung der Schriften des Alten Bundes, die sie sehr gut kannten, sondern einen Aufrührer und Gotteslästerer, der es sogar wagte, Gott seinen Vater zu nennen. Sie sahen in ihm eine Gefahr für den jüdischen Glauben und das gesamte jüdische Volk und daher war seine Verurteilung zum Tod für sie die einzige Möglichkeit, den Glauben der Väter zu retten.
Bis heute unterscheiden sich Juden und Christen grundlegend in der Auslegung der Heiligen Schrift. Während die Christen nahezu alle Worte und Ereignisse des Alten Testaments auf Jesus Christus hin deuten, hat für fromme Juden Jesus Christus in ihrem Glauben keinen Platz. Die Erfüllung der Verheißungen steht für sie noch aus und sie warten weiterhin sehnsüchtig auf den Messias.
Paulus muss sich vor den Juden und wahrscheinlich auch vor sich selbst rechtfertigen, warum er plötzlich an Jesus Christus glaubt. Es steht auch der Einwand im Raum: Wenn Jesus Christus wirklich gekommen ist, um Israel zu retten, warum haben dann nur wenige geglaubt? Was ist mit dem großen Rest derer, die weiterhin als Juden leben, ohne den Glauben an Jesus Christus anzunehmen?
Israel ist von Gott in ganz besonderer Weise erwählt. Gott hat einen Bund geschlossen mit Abraham, dem Stammvater Israels, und mit Mose und dem Volk am Berg Sinai. Dieser Bund bleibt bestehen. Die Erwählung Israels bleibt. Für Paulus aber mühen sich die Juden nun vergebens. Sie leben eine Verheißung, die sich bereits erfüllt hat. Das rührt Paulus in seinem Innersten, er ist voller Trauer darüber, dass nicht alle seine Brüder aus dem Judentum den Weg zu Jesus Christus gefunden haben, wie er selbst.
Paulus versucht die Juden zu überzeugen, er betet für sie, aber es ist eine Tatsache bis heute, dass viele Juden nicht an Jesus Christus glauben, sondern weiterhin nach der Tradition ihrer Väter leben, wie sie die Heilige Schrift des Alten Bundes überliefert. Paulus weiß, dass die Erwählung Israels vor Gott weiterhin Bestand hat. So liegt es auch ganz in Gottes Hand, was mit seinem erwählten Volk geschieht.
Fortan aber verbindet Juden und Christen eine wechselvolle Geschichte. Galt zunächst das Christentum als jüdische Sekte und gab es anfangs noch Versuche von jüdischer Seite, den Glauben an Jesus Christus eng mit der Tradition der Väter zu verbinden (etwa indem sie von Heidenchristen die Beschneidung und Einhaltung des jüdischen Gesetzes forderten und sie so weitgehend zu Juden machen wollten), löste sich das Christentum immer mehr vom Judentum ab.
Als das Christentum immer stärker wurde, begannen von christlicher Seite Übergriffe auf die Juden. Sie wurden als Christusmörder diffamiert. Mithilfe staatlicher Seite (die bei den Juden wegen ihrer Eigenschaft als Kreditgeber oft Schulden hatte und damit auch davon profitierte) gab es im Mittelalter immer wieder gewaltsame Ausschreitungen gegen Juden. Ihren Höhepunkt erreichte die Gewalt gegen Juden in der grausamen Vernichtung unzähliger Juden durch die Nationalsozialisten.
Christen haben sich immer wieder an Juden schuldig gemacht. Doch jede Form von Judenhass ist zutiefst unchristlich. Wir müssen den Weg Gottes mit seinem auserwählten Volk respektieren und achten. Wir dürfen wie Paulus für die Juden beten, aber es steht uns nicht zu, über Erwählung und Verwerfung zu urteilen. Gott geht den Weg mit seinem Volk, auch heute.

Gott unserer Väter, du hast Abraham und seine Nachkommen auserwählt, deinen Namen zu den Völkern zu tragen. Wir sind zutiefst betrübt über das Verhalten aller, die im Laufe der Geschichte deine Söhne und Töchter leiden ließen. Wir bitten um Verzeihung und wollen uns dafür einsetzen, dass echte Brüderlichkeit herrsche mit dem Volk des Bundes. Darum bitten wir durch Christus unseren Herrn. (Papst Johannes Paul II.)

Wie es sich letztlich mit der bleibenden Erwählung Israels angesichts des Unglaubens vieler Juden verhält, bleibt ein Geheimnis, um das allein Gott weiß, wie Paulus am Ende dieses Abschnittes darlegt:

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Römer
Damit ihr euch nicht auf eigene Einsicht verlasst, Brüder, sollt ihr dieses Geheimnis wissen: Verstockung liegt auf einem Teil Israels, bis die Heiden in voller Zahl das Heil erlangt haben; dann wird ganz Israel gerettet werden, wie es in der Schrift heißt:
Der Retter wird aus Zion kommen, er wird alle Gottlosigkeit von Jakob entfernen.
Das ist der Bund, den ich ihnen gewähre, wenn ich ihre Sünden wegnehme.
Vom Evangelium her gesehen sind sie Feinde Gottes, und das um euretwillen; von ihrer Erwählung her gesehen sind sie von Gott geliebt, und das um der Väter willen. Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt. Und wie ihr einst Gott ungehorsam wart, jetzt aber infolge ihres Ungehorsams Erbarmen gefunden habt, so sind sie infolge des Erbarmens, das ihr gefunden habt, ungehorsam geworden, damit jetzt auch sie Erbarmen finden. Gott hat alle in den Ungehorsam eingeschlossen, um sich aller zu erbarmen. (Röm 11,25-32)

Jesus Christus und die ersten Christen waren ausnahmslos Juden. Jesus fühlt sich nur zu den Juden gesandt, um ihnen die sein Evangelium zu verkünden, die Botschaft von der Rettung aller Menschen. Doch nur wenige Juden glauben daran, dass er der verheißene Messias ist, der Sohn des lebendigen Gottes. Viele unter den Juden, allen voran die Führungselite des jüdischen Volkes, halten Jesus viel mehr für einen Gotteslästerer und einen Lügenpropheten, der das Volk verführt. Daher musste Jesus am Kreuz sterben. Gläubige Juden warten bis heute auf den Messias.
Paulus beschäftigt sich im Römerbrief wie viele andere Christen zu allen Zeiten mit der Frage, was das bedeutet. Als Christen glauben wir, dass Jesus wirklich der Sohn Gottes ist. Also müssen die Juden, die Jesus ablehnen, im Irrtum sein. Oft haben Christen daraus den Schluss gezogen, dass diese Ablehnung Jesu für die Juden die Verwerfung bedeutet. Sie waren Gottes auserwähltes Volk, aber sie haben den Sohn Gottes, der zu ihnen gesandt war, getötet. Daher haben sie aufgehört, Gottes Volk zu sein und man muss auf die Juden keine Rücksicht mehr nehmen. Das war die Grundlage für das unmenschliche Verhalten gegen die Juden zu allen Zeiten.
Doch Paulus findet eine andere Lösung für dieses Problem. Viele Juden haben Jesus Christus nicht als Sohn Gottes erkannt. Sie sind verblendet, ungehorsam gegenüber dem Willen Gottes. Aber sie bleiben Gottes Volk. So wie im Laufe der Geschichte das Volk immer wieder ungehorsam war, doch immer wieder zu Gott zurück gefunden hat, so ist es auch jetzt. Ja ihr Ungehorsam hat sogar einen gewissen Nutzen, denn ohne ihn wäre das Christentum vielleicht eine Form des Judentums geblieben, so aber kam es zu einer Abspaltung der Christen von den Juden, die Christen wandten sich mit ihrer Mission an die Heiden und in der Kirche konnte etwas ganz Neues entstehen.
Christentum und Judentum bestehen seither weitgehend getrennt nebeneinander fort. Und doch verbindet sie vieles. Sie eint der Glaube an den einen Gott und das Fundament der Heiligen Schrift des Alten Bundes. Gott ist in beiden gegenwärtig, in seinem erwählten Volk des Alten Bundes, dem Judentum, und dem erwählten Volk des Neuen Bundes, den Christen. Gott hat sein Volk nicht verworfen. Er will beide Völker zur Vollendung führen und Paulus hat die Hoffnung, dass Gott einmal Juden und Christen zu einem Volk zusammenführen wird. Nur Gott versteht seine Pläne. Wir Menschen erkennen nur unvollkommen. Das macht Paulus in dem Ausruf deutlich, der am Ende des langen Abschnittes über die Frage nach der Erwählung und Rettung Israels steht:

O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unergründlich sind seine Entscheidungen, wie unerforschlich seine Wege!
Denn wer hat die Gedanken des Herrn erkannt? Oder wer ist sein Ratgeber gewesen? Wer hat ihm etwas gegeben, sodass Gott ihm etwas zurückgeben müsste?
Denn aus ihm und durch ihn und auf ihn hin ist die ganze Schöpfung. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen. (Röm 11,33-36)

Nur Gott erkennt vollkommen. Wir Menschen haben kein umfassendes Bild der Wirklichkeit. Und doch meinen wir immer wieder, dass unsere begrenzte Erkenntnis die ganze Wahrheit ist. Das hat immer wieder zu fatalen Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen geführt. Menschliche Engstirnigkeit bringt zu allen Zeiten viel Leid über die Erde. Menschen maßen sich an, dass ihre begrenzte Erkenntnis die volle Wahrheit ist und grenzen Menschen aus, die anders denken. Das geschieht nicht nur in totalitären Regimen, sondern überall, auch heute und bei uns.
Gefährlich wird es immer dann, wenn in einem Streit nicht das Verbindende gesehen wird, sondern das Trennende immer stärker betont wird, und wenn Anführer aufeinander treffen, die diese Meinungsunterschiede für die Legitimierung ihrer Machtkämpfe nutzen. Dann entsteht ein oft unentwirrbares Ineinander von Meinungskampf und Machtkampf und es ist kein freier Meinungsaustausch mehr möglich, da es beiden Seiten zugleich um Macht und Einfluss geht.
So kam es dazu, dass Christen und Juden nicht in einem friedlichen Miteinander als zwei Völker Gottes nebeneinander bestehen konnten. Auf beiden Seiten gab es Menschen, die das Trennende zwischen Juden und Christen betonten und nicht die Gemeinsamkeiten. Mussten anfangs christliche Gemeinden unter den Angriffen der Juden leiden, so gewannen bald die Christen die Überhand und es kam durch die Jahrhunderte hindurch immer wieder zu gewaltsamen Ausschreitungen gegen die Juden.
Doch bald fingen die Christen an, sich auch untereinander zu bekämpfen. Besonders unter den hochgebildeten Bischöfen des Ostens kam es zu Auseinandersetzungen über die Frage, wer Jesus Christus war, wie in ihm Gott-Sein und Mensch-Sein miteinander in Beziehung standen. Bald gab es Kämpfe um die Reinheit des Glaubens, in die auch die weltliche Macht mit einbezogen wurde. Einige Auseinandersetzungen waren sicher notwendig, um den Glauben vor Irrlehren zu bewahren, bei vielen Kämpfen ging es aber auch um Machtansprüche. Die Wunden schmerzen der Kirche bis heute.
Es kam zur Trennung von Ost- und Westkirche, schließlich wurde mit der Reformation eine weitere tiefe Wunde in das Herz der Kirche gerissen. Auch hier wurde der gerechtfertigte Ruf nach einer Reform der Kirche bald untrennbar mit weltlichen Machtansprüchen verknüpft und einige Herrscher konnten durch die Trennung von Rom ihren Einfluss vergrößern. Trotz der vielfältigen Ansätze der Ökumene überwiegt bis heute das Trennende die Gemeinsamkeiten.
Auch in der Wissenschaft hat menschliche Engstirnigkeit oft einen tieferen Austausch und eine Weiterentwicklung gehemmt. Es hat lange gedauert, bis wir schließlich unsere Erde als einen kleinen Planeten im Universum erkannt haben, der mit anderen Planeten um die Sonne kreist. Dann aber kam das mechanische Weltbild, das die ganze Welt durch physikalische Gesetze erklärbar und vorhersehbar sah und keinen Platz mehr lassen wollte für das Wirken einer transzendenten Gottheit.
Heute vor allem durch die Quantenphysik wird klar, dass das Weltbild der newtonschen Physik nur für einen Teil der Wirklichkeit Geltung hat. Auch wenn immer wieder nach einer Weltformel gesucht wir, entdecken wir, dass die Gesetze des Universums immer phantastischer werden und noch vieles unentdeckt ist. Wir erkennen auch immer mehr, dass die Natur mit blindem Materialismus nur ungenügend erklärbar ist. Die Natur birgt Geheimnisse, die Menschen früherer Zeiten viel besser verstanden haben als wir heute. Wir fangen wieder an zu entdecken, dass ein Leben im Einklang mit der Natur viel profitabler sein kann als materialistisches Wirtschaften, das zwar einigen schnellen Gewinn beschert, aber letztlich der Allgemeinheit exorbitant hohe Schäden hinterlässt.
Es würde zu weit führen, hier alles im Detail darzulegen. Worauf ich aufmerksam machen möchte ist, dass wir uns immer im Klaren darüber sein müssen, dass wir nur einen Teil der Wirklichkeit erkennen, dass unsere Wahrnehmung stets vorgeprägt ist, und dass wir nie einen Sachverhalt oder Gegenstand objektiv in seiner Ganzheit verstehen können. Wir müssen stets vorsichtig sein gegen jede Meinungsmache von rechts aber auch von links. Beide Seiten haben ihre berechtigten Ansichten, beide Seiten schießen aber über das Ziel hinaus. Es ist schwer, einen Platz in der Mitte zu halten, der die berechtigten Ansprüche beider Seiten sieht, sich aber von falschgeleiteten doktrinären Ansätzen deutlich distanziert.
Menschen fällt es immer leicht, sich für etwas zu entscheiden, das kompakt und verständlich daher kommt. Doch gerade das, was einfach erscheint, hat viele Mängel. Wir können uns nicht mit allem im Detail beschäftigen. Unser Wissen bleibt zwangsläufig begrenzt. Aber gerade deshalb müssen wir uns eine gesunde Distanz zu allem bewahren, was uns einfache Erklärungen liefern will. Wir müssen uns stets eine gesunde Offenheit bewahren für die verborgenen Geheimnisse der Wirklichkeit, die sich hinter den vielen Meinungen verbergen.
Dazu kann uns der Satz des Paulus helfen, den ich hier noch einmal zitieren möchte:

O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unergründlich sind seine Entscheidungen, wie unerforschlich seine Wege! (Röm 11,33)

Haben wir Mut, in die Tiefe zu gehen und nicht an der Oberfläche stehen zu bleiben. Ja, wir müssen uns eine Meinung bilden, wir müssen Stellung beziehen zu den Fragen dieser Zeit. Aber unsere Meinung sollte nicht auf den Parolen der Populisten jedweder Richtung basieren, sondern auf dem Hinterfragen von allem, was man uns vorlegt. Vor allem müssen wir uns immer dessen bewusst sein, dass die Meinung, die wir uns gebildet haben, nicht der Wahrheit entspricht, sondern allenfalls eine Annäherung daran ist. Daher müssen wir auch stets den Mut haben, unsere Meinung zu ändern, wenn wir etwas entdeckt haben, mit dem wir der Wahrheit näher kommen als bisher.

Herr, mein Gott,
lass mich dich in allem erkennen, denn du bist der Schöpfer von allem und du hast deine Spuren in alles gelegt.
Lass mich stets wachsam sein, wenn andere mich mit ihrer Meinung beeinflussen wollen. Lehre mich tiefer zu blicken, nachzuforschen, und den Dingen auf den Grund zu gehen.
Lass mich nicht getrieben sein vom Gewirr der Meinungen, sondern gib mir eine feste Überzeugung, die ich gegen andere Meinungen verteidigen kann.
Aber gib mir auch den Mut, meine Überzeugung zu revidieren, wenn ich einen Fehler darin erkannt habe.
Lass mich die Welt immer mehr mit deinen Augen sehen, mit den Augen der Liebe, die das Sein hinter dem Schein entdeckt und erkennt, worauf es wirklich ankommt im Leben.
Amen.