Offenbarung 10,1-11,19

Der neue Engel

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Offbenbarung
Und ich sah: Ein anderer gewaltiger Engel kam aus dem Himmel herab; er war von einer Wolke umhüllt und der Regenbogen stand über seinem Haupt. Sein Gesicht war wie die Sonne und seine Beine waren wie Feuersäulen. (Offb 10,1)

Die Kapitel 10 und 11 bilden eine eigene "kleine" Apokalypse inmitten der großen Linien der Offenbarung. Sie sind eingereiht zwischen dem Schall der sechsten und der siebten Posaune. Dass diese beiden Kapitel eine eigenständige Funktion haben, zeigt sich im Auftreten eines neuen Engels. Er löst den Engel ab, der den Seher zuerst in den Himmel geführt hat. Es ist ein gewaltiger Engel mit Beinen wie Feuersäulen, das Gesicht wie die Sonne, von einer Wolke umhüllt und der Regenbogen über seinem Haupt, ein Lichtengel, wie er strahlender nicht sein kann.

In der Hand hielt er ein geöffnetes kleines Buch. Er setzte seinen rechten Fuß auf das Meer, den linken auf das Land und rief laut, so wie ein Löwe brüllt. Nachdem er gerufen hatte, erhoben die sieben Donner ihre Stimme. Als die sieben Donner gesprochen hatten, wollte ich es aufschreiben. Da hörte ich eine Stimme vom Himmel her rufen: Versiegle, was die sieben Donner gesprochen haben; schreib es nicht auf! (Offb 10,2-4)

Der neue Engel, der dem Seher erschienen ist, hält ein geöffnetes Buch in der Hand. Er steht mit einem Fuß auf dem Meer und mit einem Fuß auf dem Land, seine Schrittweite umfasst also die gesamte Erde und über der Erde ertönt sein gewaltiger Ruf, auf den die sieben Donner antworten. Die Antwort der sieben Donner soll geheim bleiben. Entgegen der Weisung des ersten Engels an Johannes, alles aufzuschreiben, was er sieht und hört, bleiben die Worte der sieben Donner geheim.
Hinter den sieben Donnern mag die Vorstellung stehen, dass die Schöpfung mit Gott über das Medium des Donners kommuniziert. Wir finden diese Vorstellung in Psalm 29 in dem Bild von den donnernden Wassermassen, die einander zurufen. Auch heute noch ist vielen Menschen der Donner unheimlich und wie mag das erst in früheren Zeiten gewesen sein. Donner ist immer auch ein Zeichen der Anwesenheit Gottes. Bei der Übergabe der Zehn Gebote am Sinai ist der Berg in ein heftiges Gewitter mit lautem Donner eingehüllt, bei Taufe und Verklärung Jesu offenbart die Stimme Gottes wie Donner den Sohn.
Was die Donner hier sprechen, wissen wir nicht. Wir können annehmen, dass es sich dabei um Gerichtsworte handelt, die den Untergang der Welt ankündigen. Dies könnte der Grund für die nun folgenden eindringlichen Worte des Engels sein.

Und der Engel, den ich auf dem Meer und auf dem Land stehen sah, erhob seine rechte Hand zum Himmel. Er schwor bei dem, der in alle Ewigkeit lebt, der den Himmel erschaffen hat und was darin ist, die Erde und was darauf ist, und das Meer und was darin ist: Es wird keine Zeit mehr bleiben, sondern in den Tagen, wenn der siebte Engel seine Stimme erhebt und seine Posaune bläst, wird auch das Geheimnis Gottes vollendet sein; so hatte er es seinen Knechten, den Propheten, verkündet. (Offb 10,5-7)

Es bleibt keine Zeit mehr. Beim Schall der siebten Posaune wird sich alles vollenden und dann wird auch das Geheimnis Gottes, das die sieben Donner gesprochen haben und das Johannes hier nicht aufschreiben durfte, offenbar.

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Offbenbarung
Und die Stimme aus dem Himmel, die ich gehört hatte, sprach noch einmal zu mir und sagte: Geh, nimm das Buch, das der Engel, der auf dem Meer und auf dem Land steht, geöffnet in der Hand hält! Und ich ging zu dem Engel und bat ihn, mir das kleine Buch zu geben. Er sagte zu mir: Nimm und iss es! In deinem Magen wird es bitter sein, in deinem Mund aber süß wie Honig. Da nahm ich das kleine Buch aus der Hand des Engels und aß es. In meinem Mund war es süß wie Honig. Als ich es aber gegessen hatte, wurde mein Magen bitter. Und sie sagten zu mir: Du musst noch einmal weissagen über viele Völker und Nationen mit ihren Sprachen und Königen. (Offb 10,8-11)

Das Bild von der Buchrolle, die der Prophet essen soll, finden wir bereits beim Propheten Ezechiel (Ez 2,8-3,7). Der Prophet hört nicht nur die Worte Gottes, die er verkünden soll, er isst sie, nimmt sie ganz in sich auf, verdaut sie, so dass sie ganz Teil seiner selbst werden. Ruminatio ist ein Wort für die Betrachtung der Heiligen Schrift, das an dieses Bild erinnert. Wörtlich bedeutet dies Widerkäuen. Durch ständige Betrachtung nehmen wir die Worte der Heiligen Schrift in uns auf, wir sagen sie uns entweder laut (wie es die Väter getan haben) oder im Geist immer wieder vor, bis sie ein Bestandteil unserer selbst werden, bis diese Worte in uns leben und unser Leben verändern.
Die Bibel können wir nicht lesen wie jedes andere Buch. Sie ist kein Roman, der unserer Unterhaltung dient, sie ist kein Sachbuch, das unser Wissen erweitert. Die Heilige Schrift, das sind Worte des Lebens. Ihre Worte sollen unser Leben bestimmen. Wir verstehen die Schrift nur, wenn wir sie auch leben. Es kann sein, dass ihre Worte bei jedem Lesen eine neue Bedeutung für uns gewinnen. Es kann sein, dass eine Stelle für uns lange unverständlich bleibt und wir dann plötzlich ihren Sinn verstehen.
Nehmen wir täglich die Heilige Schrift zur Hand und vergessen wir nicht, beim Lesen auch zu verweilen. Es ist gut, einen Überblick über die Schrift zu haben, aber ihren tieferen Sinn erschließt sie uns erst, wenn wir in die Tiefe gehen. In einem Vers, ja sogar einem einzelnen Wort kann so viel Sinn stecken, dass wir ganze Bücher damit füllen könnten.
Johannes nimmt wie der Prophet Ezechiel das Buch aus der Hand des Engels. Er versteht nun den Sinn der Weltgeschichte, er versteht Gottes Plan mit der Menschheit. Aber dieses Verstehen ist nicht so wie beispielsweise das Verstehen in der Mathematik. Gottes Pläne sind keine einfachen Gleichungen, Gottes Geschichte mit den Menschen ist keine klare Abfolge. Es gehört auch zum Verständnis der Schrift, dass uns klar wird, dass ihre Deutung offen bleibt. Nur mit Bildern kann Johannes das vermitteln, was er gesehen hat. Es sind Bilder, die offen sind für Deutung und nicht Bilder, die wie ein Film zeigen, was geschieht.
Ich denke wir haben im Zeitalter von Fernsehen und anderer Medien die Phantasie verlernt. Wir bekommen ständig Bilder geliefert, die genau zeigen, was irgendwo auf der Welt geschehen ist. Früher waren die Menschen auf das angewiesen, was sie selbst gesehen haben und andere ihnen erzählt haben. Aber wenn wir einmal aufmerksam hinsehen, müssen wir verstehen, dass auch das Fernsehen nie ein Abbild der Wirklichkeit liefert, sondern immer nur eine Deutung. Ein zweiminütiger Nachrichtenbeitrag kann niemals ein Geschehen objektiv widergeben, ja selbst die Auswahl der Bilder ist schon Deutung.
Menschen wollen Fakten und bekommen doch allzu oft Fake News oder zumindest nur die halbe Wahrheit. Wenn wir ein Geschehen in der Welt wirklich verstehen wollen, müssen wir uns viele verschiedene Informationen dazu holen. Dann werden sich uns vielfältige Aspekte und Hintergründe auftun. Freilich, das ist mühsam und kein Mensch hat die Zeit und Fähigkeit, alle Informationen genau zu prüfen, aber es lohnt sich, das eine oder andere näher zu prüfen und vor allem stets vorsichtig mit dem umzugehen, was an uns herangetragen wird.
Der Seher Johannes bekommt Informationen aus erster Hand. Mit dem Bild vom Engel und der Schriftrolle will er zeigen, wie wichtig seine Worte sind und dass es für seine Leserinnen und Leser lebensentscheidend ist, auf sie zu hören. Es lohnt sich, die Bilder der Offenbarung immer wieder zu betrachten und so nach und nach ihren Sinn zu verstehen. Sie wollen uns keine Angst machen, aber sie wollen uns deutlich machen, wie wichtig es ist, sich zu entscheiden, auf welcher Seite man steht. Christentum ist keine Religion der Bequemlichkeit. Wer ernsthaft Christ sein will, steht im Spannungsfeld der Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse. Er ist berufen, Zeugnis abzulegen für Jesus Christus, den Herrn des Lebens.

Dann wurde mir ein Messstab gegeben, der aussah wie ein Stock, und mir wurde gesagt: Geh, miss den Tempel Gottes und den Altar und zähle alle, die dort anbeten! Den Hof, der außerhalb des Tempels liegt, lass aus und miss ihn nicht; denn er ist den Heiden überlassen. Sie werden die heilige Stadt zertreten, zweiundvierzig Monate lang. (Offb 11,1-2)

Nach der Übergabe der Buchrolle folgt die Vermessung des Tempels. Der hier nur knapp geschilderte Vorgang hat sein Vorbild in Ez 40-42, wo dem Propheten Ezechiel die gesamten Ausmaße des Tempels detailliert gezeigt werden. Hier geht es vor allem darum, dass Zahl der Beter Gott genau bekannt ist. Danach wird der Seher eingeweiht in das Auftreten von zwei Propheten.

Und ich will meinen zwei Zeugen auftragen, im Bußgewand aufzutreten und prophetisch zu reden, zwölfhundertsechzig Tage lang. Sie sind die zwei Ölbäume und die zwei Leuchter, die vor dem Herrn der Erde stehen. Wenn ihnen jemand Schaden zufügen will, schlägt Feuer aus ihrem Mund und verzehrt ihre Feinde; so muss jeder sterben, der ihnen schaden will. Sie haben Macht, den Himmel zu verschließen, damit kein Regen fällt in den Tagen ihres Wirkens als Propheten. Sie haben auch Macht, das Wasser in Blut zu verwandeln und die Erde zu schlagen mit allen möglichen Plagen, sooft sie wollen.
Wenn sie ihren Auftrag als Zeugen erfüllt haben, wird das Tier, das aus dem Abgrund heraufsteigt, Krieg mit ihnen führen, sie besiegen und töten. Und ihre Leichen bleiben auf der Straße der großen Stadt liegen. Diese Stadt heißt, geistlich verstanden: Sodom und Ägypten; dort wurde auch ihr Herr gekreuzigt. Menschen aus allen Völkern und Stämmen, Sprachen und Nationen werden ihre Leichen dort sehen, dreieinhalb Tage lang; sie werden nicht zulassen, dass die Leichen in einem Grab bestattet werden.
Und die Bewohner der Erde freuen sich darüber, beglückwünschen sich und schicken sich gegenseitig Geschenke; denn die beiden Propheten hatten die Bewohner der Erde gequält. Aber nach den dreieinhalb Tagen kam von Gott her wieder Lebensgeist in sie und sie stellten sich wieder auf ihre Füße. Da überfiel alle, die sie sahen, große Angst. Und sie hörten eine laute Stimme vom Himmel her, die ihnen zurief: Kommt herauf! Vor den Augen ihrer Feinde stiegen sie in der Wolke zum Himmel hinauf. In dieser Stunde entstand ein gewaltiges Erdbeben. Ein Zehntel der Stadt stürzte ein und siebentausend Menschen kamen durch das Erdbeben um. Die Überlebenden wurden vom Entsetzen gepackt und gaben dem Gott des Himmels die Ehre.
Das zweite Wehe ist vorüber; siehe, das dritte Wehe kommt bald. (Offb 11,3-14)

Eine genaue Deutung der beiden Propheten ist unklar. Spielt Johannes hier auf ein historisches Geschehen an? Wer ist mit den beiden Propheten gemeint? Sie treten machtvoll auf, werden dann aber durch das Tier aus dem Abgrund besiegt. Ihre Leichen bleiben dreieinhalb Tage (die traditionelle Unheilszeit) unbestattet der Öffentlichkeit ausgesetzt. Sie scheinen besiegt, doch dann erweckt sie Gott und nimmt sie in den Himmel auf, wobei ein Erdbeben entsteht, bei dem viele umkommen.
Gott lässt seine Zeugen nicht im Stich, auch wenn sie getötet werden, hat die Botschaft, die sie verkündet haben, weiterhin Macht und ist unvergänglich, da sie sich nicht auf Menschenwort, sondern auf Gotteswort stützt.

Prophet ist nicht der, welcher Zukünftiges anzusagen versteht, sondern das von Gott geschenkte Wort über Gott zu sagen weiß. (Hans Urs von Balthasar)

Die Worte der Propheten über Jesus Christus, seine Auferstehung und die Botschaft vom ewigen Leben sind wahr und Gott hat allezeit die Kraft, diese Wahrheit zu bezeugen. Daher lohnt es sich, für diese Wahrheit einzutreten. Die verbleibende Zeit ist kurz und wohl dem, der sie nutzt.

Der siebte Engel blies seine Posaune. Da ertönten laute Stimmen im Himmel, die riefen: Nun gehört die Königsherrschaft über die Welt unserem Herrn und seinem Christus; und sie werden herrschen in alle Ewigkeit. Und die vierundzwanzig Ältesten, die vor Gott auf ihren Thronen sitzen, warfen sich auf ihr Angesicht nieder, beteten Gott an und sprachen: Wir danken dir, Herr und Gott, du Herrscher über die ganze Schöpfung, der du bist und der du warst; denn du nahmst deine große Macht in Anspruch und tratest die Herrschaft an. Die Völker gerieten in Zorn. Da kam dein Zorn: die Zeit, die Toten zu richten, die Zeit, deine Knechte zu belohnen, die Propheten und die Heiligen und alle, die deinen Namen fürchten, die Kleinen und die Großen, die Zeit, alle zu verderben, die die Erde verderben.
Der Tempel Gottes im Himmel wurde geöffnet und in seinem Tempel wurde die Lade seines Bundes sichtbar: Da begann es zu blitzen, zu dröhnen und zu donnern, es gab ein Beben und schweren Hagel. (Offb 11,15-19)

Mit der siebten Posaune wird Gottes Sieg deutlich. Die Lade des Bundes, die im Allerheiligsten des Tempels verborgen ist, wird sichtbar. Gott zeigt seine Herrlichkeit. Der Kampf zwischen Gut und Böse ist entschieden, aber dennoch werden in den Kapiteln 13-20 ausführlich weitere Auseinandersetzung geschildert und erst die Kapitel 21 und 22 zeigen die herrliche neue Welt Gottes.
Anders als vorher geht aus der siebten Posaune nicht etwas Neues hervor, sondern sie bildet den Abschluss der vorangegangenen Kapitel. Die folgenden Kapitel werden das, was bisher gesagt worden ist, nochmals unter einem anderen Aspekt aufzeigen. Die Bilder des ersten Teils der Offenbarung und die folgenden ergänzen einander.