Matthäus 5,38-6,4

Neue Menschlichkeit (2)

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Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Auge für Auge und Zahn für Zahn. (Mt 5,38)

Auge für Auge und Zahn für Zahn ... Wir empören uns gegen eine solche Auffassung von Gerechtigkeit, aber mal ehrlich: Haben wir nicht selbst schon einmal so gedacht, wenn wir uns von anderen ungerecht behandelt gefühlt haben oder uns über das Verhalten anderer geärgert haben? Wie gerne würden wir manchmal zurückschlagen, Gleiches mit Gleichem vergelten. Na warte. Dir zeig ich es ... Und im Herzen nistet sich die Feindseligkeit ein.
Jesus will nicht, dass wir Gleiches mit Gleichem vergelten. Er will aber auch nicht, dass wir Ungerechtigkeiten einfach so hinnehmen und in uns hineinfressen. Das, was Jesus von uns erwartet, liegt auf einer anderen Ebene. Jesus erwartet, dass wir über der Situation stehen und durch mutiges Handeln die Ungerechtigkeit des anderen bloßstellen und ihn so zum Nachdenken über sein Tun bewegen. Dazu nennt Jesus einige Beispiele aus dem Alltag der Menschen damals.

Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin. (Mt 5,39)

Jesus denkt bei diesen Worten sicher nicht an eine Schlägerei, wie sie manchmal unter "Mannsbildern" vorkommen kann. Er denkt auch nicht an eine Situation der Unterdrückung, in die man sich fügen sollte. Jesus hatte hier eher die Ohrfeige als Instrument der öffentlichen Demütigung vor Augen, wie sie auch in den Gerichtsprozessen gegen die ersten Christen angewendet wurde. In einer Schlägerei würden sich die Gegner eher mit der rechten Hand auf die linke Wange schlagen. Der Schlag auf die rechte Wange aber ist Ausdruck einer standardisierten Handlung der Obrigkeit.
Stellen wir uns eine solche Situation vor. Ein Jünger Jesu soll durch die öffentliche Ohrfeige eine für alle sichtbare Demütigung erfahren. Aber er denkt gar nicht daran, sich so demütigen zu lassen oder durch eine sinnlose Wut Anlass für Gespött zu geben. Vielmehr bleibt der Geschlagene erhobenen Hauptes stehen, schaut seinem Gegner in die Augen und hält ihm demonstrativ noch die andere Wange hin. Damit zeigt er deutlich: Ich lasse mich von dir nicht demütigen. Ich bin im Recht und du im Unrecht. Somit kehrt er die Verhältnisse um und entlarvt die Ungerechtigkeit des anderen.

Und wenn dich einer vor Gericht bringen will, um dir das Hemd wegzunehmen, dann lass ihm auch den Mantel. Und wenn dich einer zwingen will, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm. Wer dich bittet, dem gib, und wer von dir borgen will, den weise nicht ab. (Mt 5,40-42)

Auch in diesem Beispiel zeigt Jesus, wie ein ungerecht Behandelter gekonnt den Spieß umdrehen kann, damit seinen Widersacher bloßstellt und somit Herr über das Geschehen bleibt, auch wenn es ihm einen Schaden bringt. Zunächst mag hier an römische Besatzungstruppen gedacht sein, die Einheimische bei Bedarf spontan für einen Hilfsdienst einspannen durften. Sie erwarten nicht, dass einer ohne Murren diesen Dienst tut. Vielmehr werden sich die meisten gesträubt haben und somit die Soldaten zu Spott und Brutalität animiert zu haben. Wenn sich aber einer ohne Murren in das Unausweichliche fügt, dann kann das ein gewisses Staunen hervorrufen und beschwichtigt den Zorn des Gegners.
Es geht hier aber auch darum, die Gier von anderen bloßzustellen, die einem Unterlegenen gerne auch noch das letzte Hemd rauben würden. Das jüdische Gesetz schreibt vor, dass ein Schuldner nicht bis zum Letzen gepfändet werden darf. Wenn einer wirklich nichts mehr hat, muss man ihm zumindest den Mantel lassen, als einziges Kleidungsstück und zugleich als Decke für die Nacht. Wenn einer die Notlage einfacher Menschen ausnutzt und sie um ihr ganzes Hab und Gut bringt, so hat der arme Mensch, wenn er dem Ausbeuter auch noch den Mantel hinwirft, die Möglichkeit, ihn öffentlich für seine Gier zu beschämen.
Diese Beispiele zeigen aber auch, dass wir eine gewisse Distanz zu unserem Besitz haben sollen. Er ist nicht unser eigentliches Gut. Unser wahrer Schatz ist im Himmel, wie Jesus an anderer Stelle sagt, und diesen kann uns niemand wegnehmen.

Vater Agathos sagte oft: Strebe nicht danach, etwas zu besitzen, bei dem du zögern würdest, es deinem Bruder zu geben, wenn er dich darum bittet. Sonst übertrittst du das Gebot des Herrn, der gesagt hat: Wer dich bittet, dem gib und wer von dir borgen will, den weise nicht ab. (Apophthegmata Patrum)
Die Schätze gehören nicht uns, sondern Gott. Gott wollte, dass wir die Verwalter seiner Schätze sind, nicht ihre Herrn. (Johannes Chrysostomus)

Die Beispiele Jesu zeigen, dass ein erfinderischer gewaltloser Widerstand mehr bewirken kann, als dumme rohe Gewalt. Sie erinnern mich an die Legenden über die frühen Märtyrer, die sich von den gegen sie angewandten Qualen nicht beeindrucken ließen, sondern durch ihre Duldsamkeit Herr über das Geschehen hatten und trotz ihrer Unterlegenheit als Sieger hervorgingen. So hat z.B. der hl. Laurentius, der qualvoll am Rost gegrillt wurde, zu seinem Henker gesagt: "Dreh mich doch um, die eine Seite ist schon gar."
Wenn wir auch hoffen, dass es für uns soweit nicht kommt mag, so kennen wir doch in unserem Alltag immer wieder Situationen, in denen wir durch ein solches erfinderisches gewaltloses Verhalten bei anderen Menschen einen bleibenden Eindruck hinterlassen könnten und einer drohenden Feindschaft den Wind aus den Segeln nehmen könnten. Auch das wäre ein Zeugnis für Gottes Größe. Bitten wir den Heiligen Geist, dass er uns zur rechten Zeit eingibt, was wir tun sollen und uns auch den Mut dazu gibt.

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Bergpredigt
Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. (Mt 5,43-45)

Das Gebot der Nächstenliebe gab es schon vor Jesus, aber Jesus hat ihm eine vorher nicht gekannte Universalität gegeben. Vor Jesus war der Nächste nur ein Mensch aus der gleichen Sippe, ein Angehöriger des eigenen Stammes. Für Jesus aber ist der Nächste jeder Mensch, auch derjenige, der nicht zum eigenen Volk gehört, auch ein Mensch, der einen anderen Glauben hat, ja mehr noch, sogar unseren Feinden sollen wir die gleiche Liebe entgegenbringen wie Menschen, die uns nahe stehen.
Jesus Christus war wahrscheinlich der erste, der das Gebot der Feindesliebe formuliert hat. Wir haben an den vorangehenden Beispielen schon gesehen, wie Jesus die Gewaltfreiheit propagiert. Ein erfinderischer gewaltfreier Widerstand steht über dummer roher Gewalt. So steht auch die Liebe über dem Hass. Wer sich nicht vom Hass gefangen nehmen lässt, sondern dem Hass die Liebe entgegensetzt, der ist stärker und wird als Sieger hervorgehen, was auch geschieht.
Doch geht das Gebot der Feindesliebe nicht über die Kraft des Menschen hinaus?

Viele schätzen die Gebote Gottes nach ihrer eigenen Schwachheit ein, nicht nach den Kräften der Heiligen, und deshalb glauben sie, dass diese Vorschriften unerfüllbar seien. Und sie sagen, dass es für die Tugend ausreiche, seine Feinde nicht zu hassen; sie darüber hinaus auch noch zu lieben, dies sei für die menschliche Natur eine zu schwere Vorschrift. Man muss aber wissen, dass Christus nicht etwas Unmögliches vorschreibt, sondern Vollkommenes. (Hieronymus)

Wie die Liebe zu den Feinden gelingen kann, dazu gibt Papst Franziskus einige Hinweise:

Jesus sagt uns zuerst: Blickt auf den Vater! Unser Vater ist Gott: er lässt die Sonne aufgehen über Bösen und Guten; es lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Unser Vater sagt morgens nicht zur Sonne: Heute leuchte über diesen und jenen; über die anderen nicht, lass sie im Schatten! Er sagt: Leuchte über allen! Seine Liebe gilt allen, seine Liebe ist ein Geschenk für alle, für Gute und Böse. ...
Weiter sagt Jesus uns: Betet, betet für eure Feinde! ... Bete ich für meine Feinde? Bete ich für die, die mir übel gesinnt sind? Wenn wir ja sagen, dann sage ich euch: Weiter so, bete noch mehr, denn das ist ein guter Weg. Wenn die Antwort nein ist, dann sagt der Herr: Du Armer! Auch du bist ein Feind der anderen! Und deshalb muss man beten, damit der Herr ihre Herzen verwandelt.

Mit seinen Worten widerspricht Jesus auch den Erwartungen eines simplen Tun-Ergehen-Zusammenhangs. Gute und Böse leben in Gottes Schöpfung zusammen und empfangen gemeinsam von Gott Sonne und Regen. Die Bergpredigt leben heißt, sich als geliebtes Kind des Vaters im Himmel zu erfahren, der seinen Kindern immer das gibt, was sie zum Leben brauchen. Nur wer sich so bei Gott geborgen weiß, findet den Mut zu einer Liebe, deren Größe sich auch im scheinbaren Scheitern zeigen kann.

Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner? Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr damit Besonderes? Tun das nicht auch die Heiden? (Mt 5,46-47)

Eine Gruppe ist immer in der Gefahr, sich von anderen abzuschotten. Zusammenhalt im Innern, gemeinsamer Widerstand nach außen. Das schweißt zusammen, bildet aber auch eine immer undurchlässigere Mauer um die eigene Gruppe. So soll es bei den Christen nicht sein. Wir sollen offen sein für andere Menschen, offen für das Unerwartete, das uns begegnet. Jesus erwartet von uns, dass wir bereitwillig schenken, ohne nach dem zu fragen, was zurückkommt. Das ist ein Mehr an Hilfsbereitschaft, als es rein menschliches Denken kennt, das ist die größere Liebe, die nur im Blick auf Gott gelingen kann.

Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist. (Mt 5,48)
Gott liebt den Menschen. Gott liebt die Welt. Nicht einen idealen Menschen, sondern den Menschen wie er ist, nicht eine Idealwelt, sondern die wirkliche Welt. (Dietrich Bonhoeffer)

Die unendliche Güte und Liebe Gottes sind das Vorbild des Christen. Zwar wird kein Mensch diese Vollkommenheit erreichen, aber sie ist ein sinnvoller Maßstab, an dem sich menschliches Tun orientieren kann. Bei all deinem Tun soll dir stets bewusst sein:

Du stehst vor dem Angesicht Gottes, Gottes Gnade waltet über dir, du stehst aber zum Andern in der Welt, musst handeln und wirken, so sei bei deinem Handeln eingedenk, dass du unter Gottes Augen handelst, dass er seinen Willen hat, den er getan haben will. (Dietrich Bonhoeffer)
Hütet euch, eure Gerechtigkeit vor den Menschen zu tun, um von ihnen gesehen zu werden; sonst habt ihr keinen Lohn von eurem Vater im Himmel zu erwarten. Wenn du Almosen gibst, posaune es nicht vor dir her, wie es die Heuchler in den Synagogen und auf den Gassen tun, um von den Leuten gelobt zu werden! Amen, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn bereits erhalten. Wenn du Almosen gibst, soll deine linke Hand nicht wissen, was deine rechte tut, damit dein Almosen im Verborgenen bleibt; und dein Vater, der auch das Verborgene sieht, wird es dir vergelten. (Mt 6,1-4)

Auf das Almosen bezieht sich die letzte der Weisungen Jesu zum Zusammenleben der Menschen. Das Almosen übersteigt aber auch bereits den rein menschlichen Bereich. Es gibt arme Menschen, die auf die Hilfe derer angewiesen sind, die mehr als genug haben. Die Güter der Erde sind dem Menschen geschenkt, nicht dass sich einige wenige daran bereichern, sondern dass alle genug haben. Da aber die Menschen unterschiedliche Fähigkeiten haben und ihnen im Leben unterschiedliches widerfährt, sind einige Menschen mehr begünstigt als andere, was die Verteilung der Gaben betrifft. Wer mehr hat, soll dafür dankbar sein, zugleich aber mit denen teilen, die weniger haben. Somit kommt es zu einem Ausgleich.
Auf die Frage, warum es den einen besser geht als anderen, können wir keine Antwort geben. Unsere Antwort kann allein die sein, dass wir miteinander teilen und so das ausgleichen, was nicht im Gleichgewicht ist. Wer damit prahlt, anderen zu helfen, zementiert die Ungerechtigkeit in der Welt, weil er sich für etwas Besseres hält als die anderen. Solch ein Mensch hat nicht kapiert, worum es Jesus geht.
Wenn wir zu der Liebe gefunden haben, die Jesus uns als Ziel gesteckt hat, dann ist für uns jeder Mensch gleich. Die Unterschiede zwischen Arm und Reich, Gebildet und Ungebildet, Mächtig und Schwach verschwinden. Wir wissen, dass jeder Mensch vor Gott gleich ist und dass Gott jeden Menschen in gleicher Weise liebt. Wenn wir mit anderen teilen, tun wir das, was Gott tut, der den Menschen alles schenken möchte.