Lukas 2,41-52

Jesus im Tempel

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Die Eltern Jesu gingen jedes Jahr zum Paschafest nach Jerusalem. Als er zwölf Jahre alt geworden war, zogen sie wieder hinauf, wie es dem Festbrauch entsprach. Nachdem die Festtage zu Ende waren, machten sie sich auf den Heimweg. Der junge Jesus aber blieb in Jerusalem, ohne dass seine Eltern es merkten. Sie meinten, er sei irgendwo in der Pilgergruppe, und reisten eine Tagesstrecke weit; dann suchten sie ihn bei den Verwandten und Bekannten. Als sie ihn nicht fanden, kehrten sie nach Jerusalem zurück und suchten ihn dort. Nach drei Tagen fanden sie ihn im Tempel; er saß mitten unter den Lehrern, hörte ihnen zu und stellte Fragen. Alle, die ihn hörten, waren erstaunt über sein Verständnis und über seine Antworten. (Lk 2,41-47)

Lukas präsentiert sich in seinem Evangelium als Geschichtsschreiber und es gehört zu den Kennzeichen antiker Biografien, dass neben den Ereignissen um die Geburt eines Menschen sich gerade im Alter von zwölf Jahren dessen besondere Bestimmung zeigt. Das Alter von zwölf Jahren war damals die Schwelle vom Kind zum Erwachsenen. Wir wissen, dass Kinder in der Antike nicht viel galten und nur als unfertige Erwachsene angesehen wurden. Mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter, also mit zwölf, wurde dann aus dem Kind erst ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft. So nimmt es nicht Wunder, dass Lukas aus den etwa dreißig Jahren zwischen Geburt und erstem Auftreten Jesu gerade über den zwölfjährigen Jesus berichtet.
Die drei großen Wallfahrtsfeste Israels waren das Passah-Fest, das Wochenfest und das Laubhüttenfest, doch nur die Bewohner der näheren Umgebung waren verpflichtet, an diesen Tagen zum Tempel nach Jerusalem zu pilgern. Bei weiter entfernt Wohnenden (Nazaret ist ca. 135 km und damit mehrere Tagesreisen von Jerusalem entfernt) war eine einmalige Wallfahrt üblich, die meist zum Passahfest stattfand. Dabei pilgerte nicht jede Familie für sich, sondern man schloss sich dem großen Pilgerzug an, bei dem meist Männer, Frauen und Kinder jeweils eigene Gruppen bildeten. Daher ist es nicht ungewöhnlich, dass die Eltern das Fehlen Jesu erst nach längerer Zeit bemerkten.
Sie finden Jesus schließlich dort, wo sie ihn gar nicht erwartet hätten: mitten im Tempel unter den Schriftgelehrten. Jesus beweist seine fundierte Kenntnis der heiligen Schriften Israels. Mir kommt hier ein Satz des Propheten Maleachi in den Sinn:

Dann kommt plötzlich zu seinem Tempel der Herr, den ihr sucht, und der Bote des Bundes, den ihr herbeiwünscht. (Mal 3,1)

Der Herr kommt zu seinem Tempel, unerkannt, unerwartet. Noch bleibt die letzte Bestimmung Jesu verborgen und es wird einige Jahre dauern, bis Jesus in seinem öffentlichen Wirken das Reich Gottes verkündet, doch schon jetzt zeigt sich, dass er aus der Schar der anderen jungen Männer hervorragt.

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Hl. Schrift
Als seine Eltern ihn sahen, waren sie sehr betroffen und seine Mutter sagte zu ihm: Kind, wie konntest du uns das antun? Dein Vater und ich haben dich voll Angst gesucht. (Lk 2,48)

Maria und Josef aber sind bestürzt. "Wie konntest du uns das antun?" Für Eltern ist es immer schmerzvoll, wenn Kinder ihren eigenen Weg gehen. Die Suche nach Jesus gehört seit alters her auch zu den "sieben Schmerzen", die die Gottesmutter zu erdulden hatte.
Lukas nutzt diese Szene zugleich, um die Göttlichkeit Jesu zu zeigen. Auf die Aussage Mariens, "dein Vater und ich haben dich gesucht", antwortet Jesus:

Da sagte er zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört? Doch sie verstanden nicht, was er damit sagen wollte. Dann kehrte er mit ihnen nach Nazaret zurück und war ihnen gehorsam. Seine Mutter bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen. Jesus aber wuchs heran und seine Weisheit nahm zu und er fand Gefallen bei Gott und den Menschen. (Lk 2,49-52)

Gott ist der wahre Vater Jesu. Dies gilt es zu verstehen. Doch Jesus bleibt weiterhin seinen Eltern gehorsam. Er spielt seine Besonderheit nicht aus, sondern lebt weiter wie ein ganz normaler junger Mann, bis die Zeit seines öffentlichen Wirkens gekommen ist. Maria aber versucht zu verstehen, was das alles bedeutet, indem sie die Worte Jesu im Herzen bewahrt.

Betrachte Maria, was für eine kluge Frau sie ist, die Mutter der wahren Weisheit, was für eine Schülerin ihres Sohnes sie ist; denn nicht wie einem Kind, auch nicht wie einem Mann, sondern wie Gott gegenüber war sie aufmerksam auf ihn. So hielt sie auch seine Worte und Taten für göttlich, daher ließ sie keine seiner Worten oder Taten als bedeutungslos fallen; sondern wie sie einst das Wort selbst in ihrem Schoß empfangen hatte, so empfing sie nun seine Handlungen und Worte und erwog sie in ihrem Herzen; und was sie schon jetzt bei sich betrachtete, das hoffte sie, zukünftig noch klarer zu schauen; und das diente ihr das ganze Leben hindurch als Richtschnur und Gesetz.
Catena Aurea des Thomas von Aquin