Johannes 3,1-21

Nikodemus

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Heilige Schrift
Es war ein Pharisäer namens Nikodemus, ein führender Mann unter den Juden. Der suchte Jesus bei Nacht auf und sagte zu ihm: Rabbi, wir wissen, du bist ein Lehrer, der von Gott gekommen ist; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, wenn nicht Gott mit ihm ist. (Joh 3,1-2)

Heimlich, bei Nacht, kommt Nikodemus zu Jesus. Er ist auf der Suche, er hat erkannt, dass dieser Jesus etwas Besonderes ist, dass Gott durch ihn spricht und wirkt. Er ist Pharisäer. Er kennt die Heiligen Schriften. Vielleicht erkennt er schon, dass sich ihre Verheißungen in Jesus Christus erfüllen. Aber er braucht noch Gewissheit, ob es sich wirklich lohnt, sich zu Jesus zu bekennen. Wenn er sich öffentlich zu Jesus bekennt, das weiß er, dann wird er ausgestoßen aus dem Hohen Rat, ausgestoßen aus der Führungsschicht des jüdischen Volkes.
Es ist ein Gespräch auf Augenhöhe, ein Gespräch zwischen zwei weisen Menschen. Jesus selbst nennt Nikodemus "Lehrer Israels". Jesus will Nikodemus deutlich machen, welches Geschenk auf ihn wartet, wenn er den Schritt des Bekenntnisses zu ihm wagt. Es ist nichts Geringeres als die Neugeburt, die ihn den Weg in den Himmel öffnet.

Jesus antwortete ihm: Amen, amen, ich sage dir: Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen.
Nikodemus entgegnete ihm: Wie kann ein Mensch, der schon alt ist, geboren werden? Er kann doch nicht in den Schoß seiner Mutter zurückkehren und ein zweites Mal geboren werden.
Jesus antwortete: Amen, amen, ich sage dir: Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; was aber aus dem Geist geboren ist, das ist Geist. Wundere dich nicht, dass ich dir sagte: Ihr müsst von neuem geboren werden. 8 Der Wind weht, wo er will; du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es mit jedem, der aus dem Geist geboren ist.
Nikodemus erwiderte ihm: Wie kann das geschehen?
Jesus antwortete: Du bist der Lehrer Israels und verstehst das nicht? Amen, amen, ich sage dir: Was wir wissen, davon reden wir, und was wir gesehen haben, das bezeugen wir, und doch nehmt ihr unser Zeugnis nicht an. Wenn ich zu euch über irdische Dinge gesprochen habe und ihr nicht glaubt, wie werdet ihr glauben, wenn ich zu euch über himmlische Dinge spreche? Und niemand ist in den Himmel hinaufgestiegen außer dem, der vom Himmel herabgestiegen ist: der Menschensohn. (Joh 3,3-13)
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Heilige Schrift

Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist neu geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Geist und Fleisch, Licht und Finsternis, diese Gegenpole finden sich immer wieder im Johannes-Evangelium. Fleisch ist das, was von dieser Welt stammt, Geist ist das, was von Gott kommt. Geist ist die göttliche Kraft, durch die Gott das All geschaffen hat, die Kraft, die im Alten Bund in den Propheten und Gerechten wirkt, die Jesu Tun begleitet und die auch die Jünger Jesu erfüllt, wie es am Pfingstfest deutlich wird.
Der Geist weht wo er will. Er lässt sich nicht vom Menschen manipulieren, sondern er ist ganz Gottes Willen unterworfen. Wenn der Mensch im Geiste neu geboren wird, so wird er durch Gottes Kraft von einem irdischen zu einem himmlischen Menschen. Freilich lebt er weiter auf dieser Erde, aber seine Heimat ist im Himmel.
Der Mensch, der vom Geist erfüllt ist, lebt aus Gottes Willen. In seinem Tun zeigt sich die göttliche Kraft. Durch den geisterfüllten Menschen kann Gott Wunder wirken. Der rein irdisch gesinnte Mensch kann das Wirken des Geistes nicht verstehen. Nur, wer sich ganz auf Gott verlässt, erfährt seine Kraft.

Doch wie kann der Mensch zu Gott kommen? Am Anfang steht die Sehnsucht und die Erkenntnis, dass irdische Dinge diese Sehnsucht des Menschen niemals stillen können. Wer zu Gott kommen möchte, der muss diesen Schritt tun, dass er sein Glück nicht in dieser Welt, sondern bei Gott sucht.
Doch auch wenn der Mensch Gott sucht, wie soll er ihn finden? Gott selbst geht immer wieder auf den Menschen zu, um ihn zu sich zu führen. Er zeigt den Menschen immer wieder, dass der Weg zu ihm möglich ist.
Die Geschichte Gottes mit den Menschen ist von vielen Missverständnissen gezeichnet. Der Mensch erhebt Anklage gegen Gott und macht ihn für Unheil und Leid verantwortlich. Aber ist es nicht der Mensch selbst, der immer wieder dazu neigt, das Böse zu tun und somit selbst Leid und Not über sich und andere bringt?

Und wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der an ihn glaubt, in ihm das ewige Leben hat. (Joh 3,14-15)

Nur wenn ein Mensch von neuem geboren wird aus Wasser und Heiligem Geist - das erläutert Jesus dem Nikodemus - kann er in das Reich Gottes kommen. Doch wie kann das geschehen? Es ist ganz ein Geschenk Gottes. Jesus gibt dem Nikodemus ein Beispiel aus der Geschichte Israels. Als die Israeliten in der Wüste gesündigt hatten, wurden sie von Giftschlangen gequält und viele kamen dadurch um. Im Auftrag Gottes machte Mose eine Schlange aus Kupfer und hängte sie an einer Fahnenstange auf. Wer nun diese Schlange anblickte, der entging der tödlichen Wirkung des Schlangengiftes. Die Rettung vor den Schlangen wurde so ganz als von Gott gewirkt gesehen.

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Die Schlange steht natürlich auch als Symbol für das Böse. Satan ist ja schon im Paradies in Gestalt einer Schlange aufgetreten, um Adam und Eva zu verführen. In der Wüste haben sich die Israeliten vom Bösen verführen lassen und gegen Mose und Gott gemurrt. Mose bezwingt die Schlange, die für das Böse steht, indem er sie an einer Fahnenstange aufhängt. Damit macht er den Sieg Gottes über die Macht des Bösen deutlich.
Auf vollkommene Weise wird der Sieg Gottes über das Böse durch den Tod Jesu am Kreuz verwirklicht. Jesus trägt alle Sünden der Menschen, damit sie getilgt werden, an das Holz des Kreuzes. Nun ist jeder, der an Jesus Christus glaubt, der Macht des Bösen entrissen und zu neuem Leben geboren. Dazu sagt der Heilige Augustinus:

Wer ist die erhöhte Schlange? Der Tod des Herrn am Kreuze. Denn weil von der Schlange der Tod kommt, ist er unter dem Bild der Schlange dargestellt worden. Der Biss der Schlange ist tödlich, der Tod des Herrn ist lebenspendend. Der Tod wird angeschaut, damit der Tod nichts vermöge.
Ist Christus nicht das Leben? Und doch ist Christus am Kreuz. Aber im Tod Christi ist der Tod gestorben, weil das getötete Leben den Tod tötete, die Fülle des Lebens den Tod verschlang; verschlungen ist der Tod im Leibe Christi.

Durch den Tod Jesu hat Gott den Tod besiegt um allen das Leben zu schenken, die neu geboren werden wollen aus dem Wasser und dem Geist.

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Heilige Schrift
Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hergab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat.
Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird.
Wer an ihn glaubt, wird nicht gerichtet; wer nicht glaubt, ist schon gerichtet, weil er an den Namen des einzigen Sohnes Gottes nicht geglaubt hat. (Joh 3,16-18)

Diese Worte bilden den Mittelpunkt des Gesprächs Jesu mit Nikodemus. Gott will den Menschen seine Liebe zeigen. Der Mensch soll erkennen, dass Gott es gut mit ihm meint, dass er den Menschen nicht niederdrücken und strafen will, sondern trösten und beschenken. Gott will dem Menschen zeigen, dass er immer wieder zu ihm kommen kann, egal was geschehen ist.
Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er den Menschen die Drohbotschaft von Gottes Gericht bringt, sondern dass er Gottes Frohbotschaft bringt. Jesus will Gottes Liebe erfahrbar machen, indem er Kranke heilt, Sündern vergibt und Ausgestoßene wieder in die Gemeinschaft zurückführt.
Selbst als die Menschen Gottes Liebe zurückweisen und den Sohn Gottes am Kreuz erhöhen, endet seine Liebe nicht. Wer kann eine so große Liebe verstehen, wie Gott sie hat, der selbst in der Stunde des Marter und der Verstoßung noch sein Herz öffnet und sein Blut für das Heil all derer vergießt, die ihm das antun?
Gottes Angebot der Liebe steht für alle Menschen zu allen Zeiten. Es ist am Menschen, sich zu entscheiden, das Angebot von Gottes Liebe anzunehmen. Der Mensch kann weitermachen wie bisher, ganz dem Fleisch verhaftet bleiben und dem Treiben dieser Welt, kann ihren bösen Taten folgen, das Licht hassen und in der Finsternis bleiben.
Der Mensch kann aber auch in das Licht Gottes eintreten. Der Weg dorthin führt über die Neugeburt im Wasser und im Geist, was nichts anderes bedeutet als die Taufe. Durch das unscheinbare Übergießen mit Wasser und die Anrufung des dreifaltigen Gottes geschieht hier der fundamentale Wandel des Menschen, der ihn zu einem Kind Gottes macht.
Die Neugeburt im Wasser und im Geist schenkt Gott unverdient jedem, der sie von ihm erbittet. Der Mensch aber ist nun gerufen, sich nicht mehr der Finsternis zuzukehren, sondern im Licht zu bleiben.

In Tat und Wahrheit
tritt Jesus auf, tritt Jesus
seinen Abstieg an,
kommt er als Licht
in die Finsternis dieser Welt,
will er mein Leben wandeln,
heilen und erneuern.

In Tat und Wahrheit sollen
Jesu Jünger heute bezeugen,
woran sie glauben, worauf sie
hoffen, woraus sie leben,
die Hingabe für das
ewige Heil der Menschen.

In Tat und Wahrheit
das Evangelium verkünden,
nicht mit großen
Lippenbekenntnissen, nicht
mit frommen Reden, sondern
in gelebter Solidarität
mit den Armen.

In Tat und Wahrheit
Gott verherrlichen im Dienst
für die Menschen,
im Teilen der Hoffnung
und der Güter der Erde,
im geschenkten Erbarmen
Gottes für alle.
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Heilige Schrift
Denn mit dem Gericht verhält es sich so: Das Licht kam in die Welt, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht; denn ihre Taten waren böse. Jeder, der Böses tut, hasst das Licht und kommt nicht zum Licht, damit seine Taten nicht aufgedeckt werden. Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht, damit offenbar wird, dass seine Taten in Gott vollbracht sind. (Joh 3,19-21)

Wenn es auch dem Menschen schwer erscheinen mag, im Licht zu bleiben, so darf er doch darauf vertrauen, dass der Beistand, den Gott ihm schenkt, in ihm wirkt, die bösen Taten besiegt und ihn zum Guten antreibt.
Wie kann das geschehen? Es gilt, immer wieder die Sehnsucht nach Gott im Herzen wach zu halten, nach dem Vater, der uns unendlich liebt und uns das neue Leben geschenkt hat. Es gilt, nach dem Fallen wieder aufzustehen und nach oben zu blicken zu dem, der uns aus aller Schuld befreit, Jesus Christus. Es gilt, immer wieder offen zu sein und um die Kraft Gottes zu bitten, mit der er in uns wirken möchte, den Heiligen Geist, der uns lebendig macht.

Da steht Christus mit dem Seinigen, strahlt die Fülle Gottes aus; hier stehe ich, eingefangen in mich selbst, festgeschmiedet in das, was ich bin - wie soll ich hinüberkommen können? Hinauskommen aus mir selbst? Anteil erhalten an dem, was Er ist? Jesus erwidert: Nicht von dir her. Nicht so, dass du aus eigener Kraft denkst, erkennst, weiterkommst und schließlich einsiehst. ... Nein, du musst loslassen ... musst es wagen und hinüberrufen: Du, Herr, hole mich! Du sende Deinen Geist, dass er mich umschaffe. Du gib mir den neuen Sinn, der imstande ist, das Deinige von Dir her zu denken. Du gib mir das neue Herz, aus Gottes Liebe geformt und fähig zu würdigen, was Gottes ist."
(Romano Guardini)

Sooft wir im Gegensatz zur Welt, die immer wieder Rache will, unseren Feind lieben, bringen wir etwas von der vollkommenen Liebe Gottes zum Ausdruck, dessen Wille es ist, alle Menschen als Kinder eines einzigen Vaters in Liebe zu vereinen.
Sooft wir verzeihen, statt einander Vorwürfe zu machen, segnen, statt einander zu verfluchen, einander Wunden verbinden, statt Salz in sie zu streuen, einander Mut machen, statt jeden Mut zu nehmen, einander Hoffnung schenken, statt uns gegenseitig in die Verzweiflung zu treiben, einander in die Arme nehmen, statt übereinander herzufallen, freundlich aufeinander zugehen, statt uns gegenseitig die kalte Schulter zu zeigen, uns beieinander bedanken, statt einander zu kritisieren, einander loben, statt einander niederzumachen
... kurz: Sooft wir uns füreinander statt gegeneinander entscheiden,
machen wir Gottes bedingungslose Liebe sichtbar, verringern wir die Gewalttätigkeit und lassen eine neue Gemeinschaft lebendig werden.
Die Welt ist nur dann schlecht, wenn du ihr Sklave bist.

Henri Nouwen