Ezechiel 1,4-28

Erscheinung Gottes

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Ich sah: Ein Sturmwind kam von Norden, eine große Wolke mit flackerndem Feuer, umgeben von einem hellen Schein. Aus dem Feuer strahlte es wie glänzendes Gold. (Ez 1,4)

Nach der Einführung wird hier näher charakterisiert, was genau Ezechiel schaute. Er sieht die Herrlichkeit Gottes. Es sind gewaltige Bilder, die hier geschildert werden. Dreimal hat Ezechiel diese Art der Vision, einmal zu Beginn seiner Tätigkeit (Ez 1,4-28), dann in Ez 8-11, als der Prophet nach Jerusalem entrückt wird und sieht, wie die Herrlichkeit Gottes den Tempel verlässt, und in Ez 40-48, in der Vision vom neuen Jerusalem, in das Gottes Herrlichkeit zurückkehrt. Diese drei großen Visionen bilden das Grundgerüst des Buches.
Gemäß dem Bilderverbot dürfen sich die Juden kein Bild von Gott machen. Sie unterschieden sich dadurch grundlegend von den anderen Völkern. Durch die Verschleppung nach Babylon kamen die Juden zudem mit einer ganz neuen Umwelt in Kontakt und sahen dort pompöse Götterstatuen. Wie konnten sie zeigen, dass ihr Gott mächtiger war als diese Götter? War nicht der Gott der größte, der das gewaltigste Standbild besaß?
Die Herrlichkeit des Gottes Israels ist eine andere und zeigt sich nicht in Form von Statuen und Bildern. Gott lässt sich nicht durch irdische Formen greifbar machen. So ist es auch unmöglich, das, was Ezechiel hier sieht, in einem Bild zum Ausdruck zu bringen. Ezechiel gebraucht Vergleiche aus unserer irdischen Erfahrung, zeigt aber zugleich, dass all unsere Erfahrung zu begrenzt ist, um Gottes Herrlichkeit zum Ausdruck zu bringen. Lassen wir die Mach dieser Bilder, die ineinander übergehen und einander immer wieder verwischen und neugestalten, auf uns wirken.

Mitten darin erschien etwas wie vier Lebewesen. Und das war ihre Gestalt: Sie sahen aus wie Menschen. Jedes der Lebewesen hatte vier Gesichter und vier Flügel. Ihre Beine waren gerade und ihre Füße wie die Füße eines Stieres; sie glänzten wie glatte und blinkende Bronze. Unter den Flügeln an ihren vier Seiten hatten sie Menschenhände. [Auch Gesichter und Flügel hatten die vier.] Ihre Flügel berührten einander. Die Lebewesen änderten beim Gehen ihre Richtung nicht: Jedes ging in die Richtung, in die eines seiner Gesichter wies. Und ihre Gesichter sahen so aus: Ein Menschengesicht (blickte bei allen vier nach vorn), ein Löwengesicht bei allen vier nach rechts, ein Stiergesicht bei allen vier nach links und ein Adlergesicht bei allen vier (nach hinten). Ihre Flügel waren nach oben ausgespannt. Mit zwei Flügeln berührten sie einander und mit zwei bedeckten sie ihren Leib. Jedes Lebewesen ging in die Richtung, in die eines seiner Gesichter wies. Sie gingen, wohin der Geist sie trieb, und änderten beim Gehen ihre Richtung nicht.
Zwischen den Lebewesen war etwas zu sehen wie glühende Kohlen, etwas wie Fackeln, die zwischen den Lebewesen hin- und herzuckten. Das Feuer gab einen hellen Schein und aus dem Feuer zuckten Blitze. Die Lebewesen liefen vor und zurück und es sah aus wie Blitze. Ich schaute auf die Lebewesen: Neben jedem der vier sah ich ein Rad auf dem Boden. Die Räder sahen aus, als seien sie aus Chrysolith gemacht. Alle vier Räder hatten die gleiche Gestalt. Sie waren so gemacht, dass es aussah, als laufe ein Rad mitten im andern. Sie konnten nach allen vier Seiten laufen und änderten beim Laufen ihre Richtung nicht. Ihre Felgen waren so hoch, dass ich erschrak; sie waren voll Augen, ringsum bei allen vier Rädern. Gingen die Lebewesen, dann liefen die Räder an ihrer Seite mit. Hoben sich die Lebewesen vom Boden, dann hoben sich auch die Räder. Sie liefen, wohin der Geist sie trieb. Die Räder hoben sich zugleich mit ihnen; denn der Geist der Lebewesen war in den Rädern. Gingen die Lebewesen, dann liefen auch die Räder; blieben jene stehen, dann standen auch sie still. Hoben sich jene vom Boden, dann hoben sich die Räder zugleich mit ihnen; denn der Geist der Lebewesen war in den Rädern.
Über den Köpfen der Lebewesen war etwas wie eine gehämmerte Platte befestigt, furchtbar anzusehen, wie ein strahlender Kristall, oben über ihren Köpfen. Unter der Platte waren ihre Flügel ausgespannt, einer zum andern hin. Mit zwei Flügeln bedeckte jedes Lebewesen seinen Leib. Ich hörte das Rauschen ihrer Flügel; es war wie das Rauschen gewaltiger Wassermassen, wie die Stimme des Allmächtigen. Wenn sie gingen, glich das tosende Rauschen dem Lärm eines Heerlagers. Wenn sie standen, ließen sie ihre Flügel herabhängen. Ein Rauschen war auch oberhalb der Platte, die über ihren Köpfen war. Wenn sie standen, ließen sie ihre Flügel herabhängen.
Oberhalb der Platte über ihren Köpfen war etwas, das wie Saphir aussah und einem Thron glich. Auf dem, was einem Thron glich, saß eine Gestalt, die wie ein Mensch aussah. Oberhalb von dem, was wie seine Hüften aussah, sah ich etwas wie glänzendes Gold in einem Feuerkranz. Unterhalb von dem, was wie seine Hüften aussah, sah ich etwas wie Feuer und ringsum einen hellen Schein. Wie der Anblick des Regenbogens, der sich an einem Regentag in den Wolken zeigt, so war der helle Schein ringsum. So etwa sah die Herrlichkeit des Herrn aus. (Ez 1,4-28a)

Gott kommt auf einem gewaltigen Thronwagen. Erschreckend groß sind dessen Räder. Die können in alle Richtungen fahren, ohne ihren Lauf zu ändern. Vier gewaltige Lebewesen mit vier Gesichtern und vier Flügeln sind die Wächter dieses Throns. Lässt sich der untere Teil des Throns noch einigermaßen darstellen, so verschwimmt der ober Teil gänzlich in seinem Glanz. Gottes Herrlichkeit zeigt sich, aber bleibt doch verborgen. Das, was Ezechiel hier in Worte zu fassen versucht, übersteigt unsere Vorstellungskraft. Doch zunächst einmal macht diese Erscheinung deutlich: Gott ist überall bei seinem Volk, er ist nicht nur im Tempel in Jerusalem gegenwärtig, sondern auch im fernen Babylon. Vielleicht war das der größte Trost für die Israeliten, die sich plötzlich fern ihrer Heimat und ihres Tempels wiederfanden. Gott lässt sie nicht im Stich. Er redet zu ihnen durch einen Propheten, der Gottes Gegenwart erfährt.
Zugleich symbolisiert die Vision die Macht Gottes. Gott erscheint in Sturmwind und Feuer, umgeben von vier außergewöhnlichen Lebewesen, die Engeln und Menschen gleichen, auf einem Thronwagen mit riesigen Rädern aus Diamant. Gottes Antlitz ist in einem gleißend hellen Feuerschein verborgen. Gottes Gegenwart ist nicht an den Tempel in Jerusalem gebunden, wie viele damals glaubten. für sie war der Tempel der Ort, in dem Gottes Herrlichkeit wohnt. Nun aber sieht Ezechiel Gott auf einem wunderbaren Wagen kommen, Gott ist "mobil" könnte man salopp sagen. Er hat seine Macht durch die Eroberung Jerusalems nicht verloren, sondern kann an allen Orten der Welt seine Macht zeigen.
Vor einer solchen Erscheinung kann der Mensch nur staunend und anbetend zu Boden knien. Letztlich betont auch der Begriff "Menschensohn", mit dem Ezechiel angeredet wird, den himmelweiten Unterschied, der zwischen Gottes Größe und dem Dasein des Menschen besteht. So tut Ezechiel das einzige, was der Größe Gottes angemessen ist:

Als ich diese Erscheinung sah, fiel ich nieder auf mein Gesicht. Und ich hörte, wie jemand redete. (Ez 1,28b)