Markus 12,28-37

Das wichtigste Gebot

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Gebot
In jener Zeit ging ein Schriftgelehrter zu Jesus hin und fragte ihn: Welches Gebot ist das erste von allen?
Jesus antwortete: Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft. Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.
Da sagte der Schriftgelehrte zu ihm: Sehr gut, Meister! Ganz richtig hast du gesagt: Er allein ist der Herr, und es gibt keinen anderen außer ihm, und ihn mit ganzem Herzen, ganzem Verstand und ganzer Kraft zu lieben und den Nächsten zu lieben wie sich selbst, ist weit mehr als alle Brandopfer und anderen Opfer.
Jesus sah, dass er mit Verständnis geantwortet hatte, und sagte zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Und keiner wagte mehr, Jesus eine Frage zu stellen. (Mk 12,28-34)

Im Evangelium tritt ein Schriftgelehrter mit der Frage an Jesus heran:

Welches Gebot ist das erste von allen?

Menschen lieben es, Dinge zu systematisieren, eine Rangordnung herzustellen. Das hilft, um sich zu orientieren. Wenn ich weiß, worauf ich zuerst achten soll, ist schon mal die Gefahr geringer, dass ich etwas falsch mache.
Die Schriftgelehrten wollten das Gesetz genau befolgen, möglichst keinen Fehler begehen, denn nur durch die penible Erfüllung von Gottes Geboten konnte Gottes Reich auf Erden Wirklichkeit werden - so glaubten sie.
Aber was ist nun das Allerwichtigste, das ich auf jeden Fall erfüllen muss? Diese Frage mag den Schriftgelehrten schon lange umgetrieben haben. Da fragt er Jesus, nicht um ihn auf die Probe zu stellen, wie manche seiner Kollegen, sondern weil er merkt, dass Jesus auf Fragen nach dem Gesetz Gottes mit Verständnis antwortet. Jesu Antwort ist klar und deutlich:

Gott zuerst, von ganzem Herzen, von ganzer Seele, mit allen Gedanken und aller Kraft ihn lieben.

Jesus zitiert hier einen Abschnitt aus dem Buch Deuteronomium (Dtn 6,4f), der in ganz enger Beziehung zu den Zehn Geboten steht.
Jesus fügt noch ein Zweites hinzu, auch ein Wort aus dem Gesetz des Mose, aber doch an einer ganz anderen Stelle zu finden.

Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. (Lev 19,18)

Für uns heute ist das doppelte - oder wie es auch heißt dreifache - Liebesgebot zumindest von seiner Aussage her zur Selbstverständlichkeit geworden. Auch den Menschen zur Zeit Jesu war dies nicht unbekannt. Auch wenn es keinen schriftlichen Belag dafür gibt, dass vor Jesus schon einmal jemand den engen Zusammenhang dieser beiden Gebote betont hat, so gehen viele Ausleger doch davon aus, dass dieser Gedanke bereits "in der Luft lag".
Was aber vertraut ist, das droht zu einer bloßen Formel zu werden und seine eigentliche Schlagkraft zu verlieren. Was bedeutet es, Gott ganz zu lieben? Wie kann ich meinen Nächsten lieben? Wer ist mein Nächster?

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Gebot

Jesus greift in seiner Lehre auf Altbekanntes zurück, deutet es aber ganz neu. Gottes Wort hat eine bleibende Gültigkeit, doch es gilt, seinen Inhalt stets neu zu entdecken.
Auch heute sind die Gebote Gottes etwas eingestaubt. Doch wenn wir vorsichtig den Staub entfernen, entdecken wir einen unvorstellbaren Glanz. Die Tora - die Weisung Gottes, ist die Zierde des auserwählten Volkes. Propheten sahen in ihren Visionen die Völker der Erde nach Jerusalem pilgern, um diese Weisung zu lernen.
Durch Jesus wurde die Weisung Gottes der ganzen Welt bekannt. Sie bildet die Grundlage seiner Verkündigung vom Reich Gottes. Auch er hat den Staub der Jahrhunderte von den Tafeln des Bundes entfernt. Das ging manchen zu weit, die den ursprünglichen Glanz von Gottes Weisung nicht zu ertragen vermochten.
Die Zehn Gebote beginnen mit einem einzigartigen Anruf an das Volk Gottes:

Höre, Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig. (Dtn 6,4)

Es gibt nur einen Gott. Revolutionär und unvorstellbar war dieses Wort in der Zeit, als es zum ersten Mal gesprochen wurde. Damals war das aufrüttelnde dieses Wortes die Botschaft, dass es nur einen Gott gibt und nicht wie in den Völkern ringsum unzählige Götter. Heute müssen wir den Satz anders betonen:

Höre! Es gibt einen Gott!

Gott, dessen Existenz heute von vielen geleugnet wird, ist da in dieser Welt und seine Existenz ist erfahrbar für jeden, der aufmerksam durch diese Welt geht. Höre! Lausche! Achte auf das, was andere von diesem Gott erzählen. Horch in dein Herz, ob du nicht selbst seine Stimme hörst. Gott ist dir überall nahe. Sei offen für seine Gegenwart!

Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. (Dtn 6,5)
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Gebot

Gott will keine Randexistenz im Leben des Menschen führen. Gott will die Mitte unseres Lebens sein, um die sich unser ganzes Leben dreht.
Jesus warnt oft von dem, was unseren Blick auf Gott verstellt. Reichtum und Begierde geben vor, dem Menschen ein erfülltes Leben zu schenken.
Doch wie kann ich in dieser Welt die Radikalität der Liebe zu Gott leben? Es kommt darauf an, in allem, was ich tue, auf Gott zu hören, ihn zu fragen, was ich tun und wofür ich mich entscheiden soll.
Bewusst leben, entschieden leben. Das sind Ziele, die sich Menschen setzen. Mit Gott kann mein Leben eine solche Entschiedenheit bekommen. Nicht nur im Beruf, sondern ganzheitlich.
Ich muss nicht aus dieser Welt auswandern, um Gottes Willen zu tun. Viel anspruchsvoller ist es, den Alltag mit Gott zu leben. Nicht das Außergewöhnliche, sondern das Alltägliche ist der Ort der Bewährung eines jeden Menschen. Leicht ist es davon zu träumen, was man einmal alles an Großem vollbringen möchte, viel schwerer hingegen ist es, bis in die kleinsten Dinge des Alltags hinein stets das Rechte zu tun.
Der Alltag, das ist die Begegnung mit meinem Selbst, der tägliche Kampf gegen meine Bequemlichkeit und die Begierden in mir.
Der Alltag, das ist die Begegnung mit meinen Mitmenschen, die an mir vorübergehen oder die an mich herantreten, ob gelegen oder ungelegen.
Hier geschieht auch die Begegnung mit Gott. Sie lässt sich nicht trennen davon, wie es in meinem Inneren aussieht und wie ich meinen Mitmenschen begegne.
Wir müssen unser Inneres zu einer Wohnung Gottes bereiten und weit unsere Türe nach außen öffnen, dass der Glanz, den Gottes Gegenwart uns schenkt, durch uns nach außen dringt.

Der Schriftgelehrte im Evangelium reagiert nicht verwundert über Jesu Aussage, sondern stimmt ihr in allen Punkten zu. Das mag uns verwundern, denn meist enden die Gespräche Jesu mit den Schriftgelehrten mit einem ja, aber ... Ja, ihr habt recht, so steht es im Gesetz, aber was es wirklich bedeutet, das habt ihr nicht verstanden. Lukas fügt hier das Gleichnis vom barmherzigen Samariter an, denn die Frage danach, wer denn eigentlich der Nächste ist, dem diese Liebe zu gelten hat, ist nicht unbedeutend. Bezieht sich das nur auf die eigene Sippe, auf die Stammesgenossen, oder wie es das Gleichnis vom barmherzigen Samariter deutlich mach, auch auf den, der eigentlich nicht dazugehört.
Jesus zeigt in seinem Leben und Handeln, dass sich die Erfüllung des Liebesgebotes gerade darin zeigt, auch auf die Ausgestoßenen und Missachteten zuzugehen.

"Jesus nachahmen heißt ebenso bedingungslos zu lieben versuchen." (Carlo Carretto)

Jesus hat uns Gottes Liebe gezeigt, die dem Sünder und dem Verlorenen nachgeht.

"Er war die Liebe, die sich Armut und Schmerz zu eigen gemacht hatte, um den in Armut und Schmerz gefallenen Menschen zu retten. Er war die Liebe, die sich mit dem Geliebten, dem Menschen, solidarisch machte und ohne Zögern bis zum Grund seines sündigen Daseins hinabstieg, um ihn zu erlösen." (Carlo Carretto)

Ob der Schriftgelehrte diese Dimension des Liebesgebotes erahnte? Nach Markus fand dieses Gespräch nur wenige Tage vor der Verhaftung und dem Tod Jesu statt. Jesus zeigt, was diese bedingungslose Liebe bedeutet. Er war bereit, am Kreuz zu sterben für all die Menschen, die sich gegen ihn entschieden haben, die sich der Liebe Gottes verweigerten, die zwar "Gott zuerst" sagten, aber damit doch die Erfüllung ihrer eigenen Vorstellungen und das Ausleben ihres eigenen Stolzes verbanden.
Wenn wir heute Jesu Worte vom Gebot der Liebe hören, so müssen wir immer damit im Zusammenhang sehen, wie uns Jesus diese Worte durch sein Tun ausgelegt hat. Das "Gott zuerst" zeigt sich bei ihm in seiner Ganzhingabe an den Willen des Vaters und dieser Wille des Vaters ist nichts anderes als die Liebe zu den Menschen. So kann, wer Gott liebt, gar nicht anders, als auch den Menschen lieben - bedingungslos.

Als Jesus im Tempel lehrte, sagte er: Wie können die Schriftgelehrten behaupten, der Messias sei der Sohn Davids? Denn David hat, vom Heiligen Geist erfüllt, selbst gesagt: Der Herr sprach zu meinem Herrn: Setze dich mir zur Rechten und ich lege dir deine Feinde unter die Füße. David selbst also nennt ihn «Herr». Wie kann er dann Davids Sohn sein? (Mk 12,35-37)