Ob ihr esst oder trinkt oder etwas anderes tut: tut alles zur Verherrlichung Gottes! (1Kor 10,31)
Diser Ausschnitt aus dem Ersten Korintherbrief hat mich dazu ermuntert, über das Thema Toleranz nachzudenken. Irgendwie scheint es zum Wesen des Menschen zu gehören, dass er seine Überzeugungen über die der anderen stellt. Das mag als persönliche Haltung noch nicht so sehr ins Gewicht fallen, wenn jedoch immer größere Gruppen eine gewisse Überzeugung teilen und diese nach außen hin propagieren, kann das schnell zur Ausgrenzung und Unterdrückung Andersdenkender führen. Ich denke, Beispiele dafür kennt jeder genug. Es hat vielleicht noch nie eine wirklich tolerante Gesellschaft gegeben.
Was aber meint Toleranz? Wirkliche Toleranz bedeutet nicht, dass man seine eigenen Überzeugungen aufgibt, und sich in einer diffusen Masse eines "alles ist erlaubt" auflöst. Tolerant kann nur sein, wer selbst Überzeugungen hat. Andernfalls wird er einem Menschen mit Überzeugungen eher mit Unverständnis als mit Toleranz begegnen.
Toleranz bedeutet, Respekt zu haben vor der Überzeugung des anderen, auch wenn ich selbst anderer Ansicht bin. Auch wenn die Überzeugung des anderen nicht meine eigene ist, begegne ich dieser doch mit Achtung und vielleicht auch Interesse.
Im religiösen Sinn kann das beispielsweise bedeuten, dass ich mich an Orten, die einer Religion heilig sind, die nicht meine eigene ist, respektvoll verhalte. Ich nehme Rücksicht auf das religiöse Empfinden anderer, mehr noch, ich begegne diesem mit Achtung. Das bedeutet keineswegs, dass ich dadurch meinen eigenen Glauben verleugne. Vielmehr bringe ich den heiligen Orten anderer Religionen den Respekt entgegen, den ich aus eigener Überzeugung auch für die heiligen Orte meiner eigenen Religion erwarte.
So ähnlich muss Paulus es gemeint haben, als er schrieb:
Gebt weder Juden noch Griechen, noch der Kirche Gottes Anlass zu einem Vorwurf! (1Kor 10,32)
Die Christen haben sich von den strengen rituellen Vorschriften der Juden gelöst. Sie haben ihre eigenen Rituale entwickelt. Auch wenn sie nicht mehr wie Juden lebten, unterschieden sich die Christen doch grundlegend von den Heiden. Wer in der jungen Kirche als Christ leben wollte, musste zwar nicht nach Art der Juden leben, sich aber dennoch deutlich von der Lebensweise der Heiden distanzieren. Wenn aber alle diese Gruppen im Alltag friedlich zusammen leben wollten, mussten sie einander mit Respekt begegnen.
Nur selten hat in der Geschichte die Koexistenz verschiedener religiöser Gruppen auf engstem Raum wirklich funktioniert. Wir erleben es heute wieder, welch negative Energien religiöser Fanatismus freisetzen kann. Wir spüren es aber vielleicht in uns selbst, wie schwer es uns fällt, hier zu differenzieren, wie sich unsere Wut über solchen Fanatismus nicht nur auf die Fanatiker, sondern auch auf die Religion an sich, in der dieser Fanatismus geschieht, richtet. Hier werden leicht immer unüberwindlichere Mauern von Vorurteilen aufgebaut.
Auch ich suche allen in allem entgegenzukommen; ich suche nicht meinen Nutzen, sondern den Nutzen aller, damit sie gerettet werden. (1Kor 10,33)
Dieses Wort des Apostels sollte uns leiten. Hinter jedem Fanatismus steckt Eigennutz. Oft dient hier die Religion nur als Vorwand für rein weltliches Streben nach Macht. Gewalt und Hass können nie Inhalt einer wahren Religion sein. Gottesdienst führt nicht in die Versklavung, sondern dient der Freiheit des Menschen. Unterdrückung entspringt nicht dem Willen Gottes, sondern der Machtgier der Menschen, die Gott für ihre Ziele missbrauchen.
Nicht Eigennutz, sondern Nutzen aller. Das Wohl der Gesellschaft wächst, je mehr es allen gut geht. Wo Menschen aus Eigennutz handeln, entsteht eine Schieflage. Schließlich meint jeder, nur auf sich schauen zu müssen, um zu seinem Recht zu kommen. Das Misstrauen wächst und es wird kälter.
Den Mut haben, zu schenken, wo alle nur haben wollen, den Mut haben, zu verzeihen, wo alle nur ihr Recht einfordern, den Mut haben, zu verzichten, wo alle nur ihren Spaß haben wollen. Unsere Gesellschaft braucht Menschen mit Überzeugungen. Nur sie sind auch zu wahrer Toleranz fähig.
Wer bin ich, dass ich einen Platz in deinem Herzen,
in deinem Haus, in deinem Reich verdiente?
Wer bin ich, dass ich auf deine Vergebung,
deine Freundschaft, deine Umarmung hoffen darf?
Dennoch erwarte ich es, sehne mich danach, zähle darauf.
Nicht wegen meiner eigenen Verdienste,
sondern allein wegen deiner unendlichen Barmherzigkeit.
O Herr, du bist der Gerechte, der Gesegnete,
der Geliebte, der Rechtschaffene, der Gnadenreiche.
Hilf mir, dir zu folgen, mein Leben mit deinem Leben
zu vereinen und ein Spiegel deiner Liebe zu werden.
(Henri J. M. Nouwen)