Jesaja 42,1-9

1.Lied vom Gottesknecht

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Jesaja
1Seht, das ist mein Knecht, den ich stütze;
das ist mein Erwählter, an ihm finde ich Gefallen.
Ich habe meinen Geist auf ihn gelegt,
er bringt den Völkern das Recht.
2Er schreit nicht und lärmt nicht
und lässt seine Stimme nicht auf der Straße erschallen.
3Das geknickte Rohr zerbricht er nicht
und den glimmenden Docht löscht er nicht aus;
ja, er bringt wirklich das Recht.
4Er wird nicht müde und bricht nicht zusammen,
bis er auf der Erde das Recht begründet hat.
Auf sein Gesetz warten die Inseln.
5So spricht Gott, der Herr,
der den Himmel erschaffen und ausgespannt hat,
der die Erde gemacht hat und alles, was auf ihr wächst,
der den Menschen auf der Erde den Atem verleiht
und allen, die auf ihr leben, den Geist:
6Ich, der Herr, habe dich aus Gerechtigkeit gerufen,
ich fasse dich an der Hand.
Ich habe dich geschaffen und dazu bestimmt, der Bund für mein Volk
und das Licht für die Völker zu sein:
7blinde Augen zu öffnen,
Gefangene aus dem Kerker zu holen
und alle, die im Dunkel sitzen, aus ihrer Haft zu befreien.
8Ich bin Jahwe, das ist mein Name;
ich überlasse die Ehre, die mir gebührt, keinem andern,
meinen Ruhm nicht den Götzen.
9Seht, das Frühere ist eingetroffen, Neues kündige ich an.
Noch ehe es zum Vorschein kommt, mache ich es euch bekannt.

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Jesaja
Seht, das ist mein Knecht, den ich stütze; das ist mein Erwählter, an ihm finde ich Gefallen. (Jes 42,1a)

Im zweiten Teil des Jesajabuches finden sich vier sogenannte Lieder vom Gottesknecht. Es handelt sich dabei um die Abschnitte Jes 42,1-4, 49,1-6, 50,4-9 und 52,13-53,12. Es sind poetische Texte, die als solche verstanden und gedeutet werden müssen. Sie sind in der Zeit entstanden, als sich das Volk Israel im Exil in Babylon befand und sollen dem Volk Mut und Hoffnung geben in dieser schwierigen Zeit.
Wer genau dieser Gottesknecht (hebräisch: ebed JHWH) ist, lässt sich nicht eindeutig sagen. Manche meinen, der Gottesknecht sei das Volk Israel, dem als Gottes auserwähltem Volk auch viel Leid widerfährt. Doch der Gottesknecht hat auch eine Aufgabe an Israel zu vollbringen und kann daher nicht mit dem Volk Israel gleichgesetzt werden. Stimmiger ist es, im Propheten selbst diesen Knecht zu sehen, der durch seinen Dienst der Verkündigung Leiden auf sich nehmen muss. Schon früh wurden die Gottesknechtslieder auf Jesus Christus hin gedeutet. In ihm erfüllt sich die Verheißung des Jesaja vom Gottesknecht, der für das Heil der Menschen Leiden und Tod auf sich nimmt.
Das erste Lied vom Gottesknecht ist der Lesungstext am Fest der Taufe des Herrn. In der Geistsendung und dem Zuspruch des Vaters wird in Jesus der Gottesknecht erkannt. Sein späteres Wirken voller Sanftmut macht die Barmherzigkeit Gottes erfahrbar.

Ich habe meinen Geist auf ihn gelegt, er bringt den Völkern das Recht. (Jes 42,1b)

Das entscheidende Charakteristikum des Gottesknechtes ist, dass Gott seinen Geist auf ihn gelegt hat. Er handelt nicht aus eigenem Antrieb und sucht nicht seinen eigenen Vorteil, sondern er ist von Gott berufen und tut das, was Gott ihm aufträgt. Der Auftrag Gottes aber an ihn ist, den Völkern das Recht zu bringen. Die Sendung des Gottesknechtes ist also eine weltweite Sendung. Nicht nur Israel, sondern allen Völkern bringt er das Recht. Und diesem Auftrag bleibt er bis zuletzt treu.
Was aber meint dieses Recht, das er den Völkern bringt und auf das die Inseln warten (42,4)? Es ist die Botschaft von der Gerechtigkeit Gottes, die den Armen und Unterdrückten ihr Recht verschafft. Es ist die Botschaft von Gottes Barmherzigkeit, die den Sünder zur Umkehr ruft, und ihm Vergebung schenkt. Es ist die Zusage, dass alle Menschen ein Recht haben auf ein Leben in Freiheit.
Mit dem Gottesknecht bricht Gottes gerechte Herrschaft in der Welt an. Diese stützt sich nicht auf Waffen und Gewalt, sondern allein auf Gottes Macht, die sich auf Wegen durchsetzt, die den Menschen oft verborgen bleiben. Gott muss nicht wie Menschen um seine Herrschaft kämpfen. Er findet einen Weg selbst dort, wo Menschen bereits jede Hoffnung auf Rettung aufgegeben haben.
Gottes Herrschaft muss nicht mit lauter Stimme und grölender Propaganda verbreitet werden. Gottes Heer schreitet nicht mit schweren Stiefeln durch das Land, die alles zertrampeln, was sich ihnen in den Weg stellt. Gottes Herrschaft baut sich nicht auf Intrigen auf und hat es nicht nötig, sich durch Lobbyarbeit von den Reichen und Mächtigen abhängig zu machen und deren Interessen zu vertreten.
Gottes Herrschaft greift ein, wo Menschen unterdrückt und ungerecht behandelt werden. Gott tritt wirklich ein für Recht und Gerechtigkeit. Nicht für das, was die Mächtigen für Recht halten, sondern für eine Gerechtigkeit, die allen Menschen zu dem Recht verhilft, das ihnen zusteht.
Gottes Herrschaft bringt nicht Finsternis und Unterdrückung über die Erde, sondern Licht, das alle Menschen erleuchtet. Alle Menschen, das heißt die Fernen und Nahen, Gottes auserwähltes Volk und auch all jene, die Gott noch nicht kennen. Das bedeutet für uns, dass wir Gott nicht exklusiv für unsere Interessen in Beschlag nehmen dürfen. Als Getaufte und zum Herrn gehörende dürfen wir uns nicht zurücklegen und denken, wir hätten ja alles, was wir brauchen. Als Glaubende sind wir vielmehr dazu aufgefordert, immer wieder zu prüfen, ob wir nicht unsere eigene Selbstgerechtigkeit bereits als Gottes Gerechtigkeit ansehen.

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Jesaja
Er schreit nicht und lärmt nicht und lässt seine Stimme nicht auf der Straße erschallen. Das geknickte Rohr zerbricht er nicht und den glimmenden Docht löscht er nicht aus; ja, er bringt wirklich das Recht. Er wird nicht müde und bricht nicht zusammen, bis er auf der Erde das Recht begründet hat. Auf sein Gesetz warten die Inseln. (Jes 42,2-4)

Seinen Auftrag erfüllt der Gottesknecht in vollkommener Sanftmut. Er umgibt sich nicht mit Armeen, die einen "Befreiungskrieg" führen, am Ende aber nur das eine System der Unterdrückung gegen ein anderes austauschen. Nicht in dröhnenden Soldatenstiefeln marschiert er einher, und er verkündet seine Botschaft nicht in schallendem Befehlston. Vielmehr bleibt er verborgen und unscheinbar. Und doch bleibt sein Auftreten nicht ohne Wirkung.
Er wählt seine Schritte mit Bedacht, damit er das geknickte Rohr nicht ganz zertritt, sondern es mit seiner Achtsamkeit wieder aufrichtet und heilt. Den glimmenden Docht löscht er nicht aus. Wenn der Docht noch glimmt, ist die Kerze noch nicht ganz erloschen. Wer vorsichtig ist, kann die Flamme neu entfachen, doch ein leichter Windstoß genügt, um den glimmenden Docht ganz zu löschen. So ein glimmender Docht ist eine ganz zarte Angelegenheit, die mit viel Feingefühl zu behandeln ist.
Damit gibt uns der Gottesknecht ein Vorbild für unser Handeln. Nur wenn wir aufmerksam durchs Leben gehen, entdecken wir die verborgenen Dinge. Wer mit viel Lärm und dröhnenden Schritten daherkommt, der zertrampelt die kleinen Pflänzchen und glimmenden Dochte am Weg, verschreckt die ängstlichen Zaungäste. Wer die Farben der Welt und ihre leisen Töne kennen lernen möchte, der muss aufmerksam durchs Leben gehen, feinfühlig und mit Bedacht jeden Schritt setzen und Augen und Ohren offen halten.
Haben sie schon einmal bemerkt, wie die Welt sich verändert, wenn Sie ihre Schritte verlangsamen und bewusst hinsehen? Dann können sie in einer Straße, durch die sie schon x-mal gelaufen sind, immer wieder Neues entdecken. Wir sehen die Menschen um uns anders und vielleicht ergibt sich ganz unverhofft ein nettes Gespräch. Oder sie beginnen zu staunen darüber, wie viel Leben in einem Baum am Straßenrand herrscht.
Wer aufmerksam durchs Leben geht, erkennt auch die verborgene Not hinter den Fassaden. Wer sich Zeit nimmt für ein Gespräch, dem wird ein anderer Mensch vielleicht sein Herz ausschütten. Wir brauchen heute mehr denn je Menschen, die Zeit haben. Die nicht nach dem ersten Satz schon dem anderen ins Wort fallen und mit vorgefertigten Lösungen abspeisen, sondern wirklich zuhören können und so den Dingen auf den Grund gehen. Dietrich Bonhoeffer sagt:

Der erste Dienst gegenüber dem Nächsten ist es, ihn anzuhören.

Der Gottesknecht ist einer, der zuhören kann. Er zieht nicht lärmend durch die Straßen, macht nicht viel Aufhebens um sich und redet andere nicht nieder mit seiner lauten Stimme. Er blickt in die Herzen, sieht die wahren Nöte und verhilft den Hilflosen zu ihrem Recht. Er geht achtsam um mit den gebrochenen Herzen, sucht den guten Kern im Inneren eines jeden Menschen. Vorsichtig, ganz zart, zaubert er aus dem glimmenden Docht wieder eine helle Flamme hervor. So leuchten in der Dunkelheit und Kälte viele warme Lichter und auf versteinerten Gesichtern zeichnet sich ein Lächeln. So wird die Welt neu in Gottes Glanz.

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Jesaja
Ich, der Herr, habe dich aus Gerechtigkeit gerufen, ich fasse dich an der Hand. Ich habe dich geschaffen und dazu bestimmt, der Bund für mein Volk und das Licht für die Völker zu sein. (Jes 42,6)

Gott identifiziert sich mit seinem Knecht. Der Knecht tut das, was er Gott tun sieht. In ihrem Handeln sind der Gottesknecht und Gott nicht zu unterscheiden. Dies erinnert mich an die Worte Jesu im Johannesevangelium, die sicher die treffendste Auslegung zu dieser Stelle sind:

Der Sohn kann nichts von sich aus tun, sondern nur, wenn er den Vater etwas tun sieht. Was nämlich der Vater tut, das tut in gleicher Weise der Sohn. Denn der Vater liebt den Sohn und zeigt ihm alles, was er tut, und noch größere Werke wird er ihm zeigen, sodass ihr staunen werdet. (Joh 5,19-20)

Und an anderer Stelle sagt Jesus:

Ich und der Vater sind eins. (Joh 10,30)

Jesus ist der Gottesknecht in vollkommener Weise. Als Gottes Sohn ist er eins mit dem Vater im Heiligen Geist. Bei ihm ist die Verbindung mit Gott im Heiligen Geist, die allen Glaubenden verheißen ist, nicht etwas, das zu seinem Wesen hinzutritt, sondern ist untrennbar mit ihm verbunden. Jesus tut unmittelbar das, was er den Vater tun sieht.
Für uns Menschen ist das schwieriger. Zwar ist uns der Heilige Geist geschenkt, aber wir müssen immer wieder lernen, seine Stimme von den vielen Stimmen zu unterscheiden. Wir lassen uns ablenken, verführen, tun das, was unserem eigenen Vorteil dient und übersehen allzu leicht den Willen Gottes.
Wo aber Menschen sich von Gottes Geist leiten lassen, da wird konkret, wozu der Gottesknecht gesandt ist:

Blinde Augen zu öffnen, Gefangene aus dem Kerker zu holen und alle, die im Dunkel sitzen, aus ihrer Haft zu befreien. (Jes 42,7)

Das ist das Recht, für das der Gottesknecht eintritt, dass die Blinden wieder sehen, dass niemand unschuldig gefangen gehalten wird und dass jene, die im Dunkel sitzen, befreit werden. Dunkel, das ist das Exil, in dem Israel zur Zeit des Propheten leben musste. Dunkel, das sind ungerechte Lebensbedingungen, Menschen, die unter Krieg und Terror zu leiden haben, Menschen, die auf der Flucht sind, Menschen, die für einen Hungerlohn schuften müssen, Menschen, die in Armut und Not leben. Wir brauchen nur die Augen öffnen und sehen dieses Dunkel. Manche von uns kennen es auch aus eigenem Erleben. Wie befreiend ist da das Licht und wie nötig sind Menschen, die wahre Lichtbringer sind.

Ich bin Jahwe, das ist mein Name; ich überlasse die Ehre, die mir gebührt, keinem andern, meinen Ruhm nicht den Götzen. Seht, das Frühere ist eingetroffen, Neues kündige ich an. Noch ehe es zum Vorschein kommt, mache ich es euch bekannt. (Jes 42,8-9)

In den letzten Versen des Liedes bekräftigt Gott, dass er die Macht hat, das, was er verheißt, auch zum Vorschein zu bringen. Die Worte des Propheten bleiben keine schönen Worte, sondern werden konkret. Man kann sich auf sie verlassen. Gott verschafft seinem Recht zum Durchbruch, damals wie heute. Zur Zeit des Propheten bedeutete das, dass die Zeit des Exils in Babylon zu Ende ist, und Israel wieder in sein Land zurückkehren darf.
Und heute? Jedem von uns kommen sicher spontan viele Beispiele in den Sinn, wo Menschen darauf warten, dass der Gottesknecht dem Recht Gottes zum Durchbruch verhilft. Dies kann der Schrei ganzer Völker nach Gerechtigkeit und Frieden sein, aber auch der Schrei eines Einzelnen vor unserer Tür. Beten wir, dass Gottes Recht konkret wird. Seien wir voll Hoffnung und Zuversicht, dass Gottes Gerechtigkeit siegt und werden wir selbst zu Boten von Gottes Gerechtigkeit.