Matthäus 5,17-20

Erfüllung des Gesetzes

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Mt
Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben! Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen. (Mt 5,17)

In der Bergpredigt zeigt uns Matthäus Jesus als den neuen Mose. Wie Mose dem Volk Israel das Gesetz Gottes vermittelt hat, so bringt Gott in Jesus Christus nun allen Menschen sein neues Gesetz. Es ist aber nicht neu, sondern geht aus dem Gesetz des Alten Bundes hervor. Die Gebote, die Gott dem Volk Israel gegeben hat, sind nicht schlecht und Gott hat es sich auch nicht anders überlegt. Vielmehr haben die Menschen Gottes ursprüngliches Gesetz falsch verstanden. Gottes Gebote sind zeitlos, müssen aber immer wieder neu an die sich wandelnden gesellschaftlichen Umstände angepasst werden.
Verhaltensformen, die für ein Nomadenvolk hilfreich waren, passen nicht in die Welt des Römischen Reiches zur Zeit Jesu, genauso wie Verhaltensformen, die sich in einer überwiegend agrarischen Gesellschaft herausgebildet haben, nicht in eine moderne globale Gesellschaft eines fortschrittlichen Industriestaates passen. Das heißt aber nicht, dass die Weisungen aus alter Zeit im falsch sind. Es geht darum, ihren eigentlichen Kern zu entdecken und diesen in die neue Zeit zu übersetzen. Wir müssen zu jeder Zeit neu entdecken, wie wir am besten als Menschen zusammenleben können. Die Welt ist im Wandel. Gewohnte Strukturen lösen sich auf. Jede Generation hat hier neu ihre Wege zu suchen, aber sie braucht die menschlichen Umgangsformen nicht komplett neu zu erfinden. Das Neue geht aus dem Alten hervor und baut auf ihm auf.
So will auch Jesus kein neues Gesetz geben, sondern er will das bestehende Gesetz neu auslegen. Wir können in den Worten Jesu eine Steigerung erkennen. Er stellt die Zehn Gebote regelrecht auf den Kopf. Die Zehn Gebote beginnen mit den Weisungen, wie der Mensch sich Gott gegenüber verhalten soll, und enden mit den Weisungen für das menschliche Zusammenleben. Jesus aber fängt hier mit dem menschlichen Zusammenleben an und kommt dann zu einer neuen Art und Weise der Begegnung mit Gott. Dabei fängt er im mitmenschlichen Bereich mit einer Weisung an, über die allgemeiner Konsens besteht, dass Menschen einander nicht töten sollen. Aber damit ist es nicht genug. Mitmenschlichkeit geht tiefer, sie geht soweit, alle Menschen zu lieben, ja sogar so weit, selbst unsere Feinde zu lieben.
Wenn der Mensch zu einem so tiefen liebevollen Miteinander bereit ist, dann erst ist er bereit für eine ganz neue Begegnung mit Gott, einer Begegnung, die sich nicht auf Äußerlichkeiten wie bestimmte Kulthandlungen oder das Aufsagen bestimmter Gebete beschränkt, sondern die zu einer lebendigen Beziehung zwischen Gott und Mensch führt. Für einen solchen Menschen ist Gott nicht ein höheres Wesen oder eine höhere Macht, sondern Gott ist für ihn ein Vater, dem der Mensch ganz vertrauen kann und der Sorge trägt um das Leben jedes einzelnen.
Diese Nähe Gottes zu den Menschen war auch im Alten Bund nicht fremd. Wir kennen den wunderschönen Psalm 23, der Gott als Hirten zeigt. Viele Worte der Propheten sprechen von der Liebe Gottes zu seinem Volk und zu jedem einzelnen Menschen. Aber sie ging etwas verloren, indem die Menschen sich mehr darauf konzentriert haben, jedes einzelne kleine Gebot zu erfüllen, anstatt Gott als liebenden Vater zu sehen. Auch im Christentum ist diese Entwicklung zu erkennen. Es ging hauptsächlich darum, die Gebote zu halten, Verfehlungen zu beichten und andächtig die Hl. Messe zu besuchen. Aber die Nähe und Liebe Gottes konnten dabei nur wenige erfahren. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass sich heute so viele von der Kirche abwenden, weil sie es verpasst hat, die Weisung Gottes rechtzeitig für eine neue Zeit zu übersetzen.
Jeder Mensch ist dazu aufgerufen, der Weisung Jesu auch heute zu folgen, von einem ausdruckslosen Nebeneinander von Menschen, das sich allein an die wichtigsten Regeln des Zusammenlebens hält, zu einem liebevollen Miteinander, das über ein gegenseitiges Annehmen und Verzeihen bis hin zu einer tiefen Liebe selbst zu den Feinden führt. Dann können wir auch Gott neu begegnen und erfahren seine Liebe, mit der er uns stets umsorgt und unser Leben trägt. Warten wir nicht, bis andere den ersten Schritt tun. Gott steht bereit, jeden einzelnen mit seinen liebevollen Armen zu umfangen.

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Bergpredigt
Amen, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird kein Jota und kein Häkchen des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist. Wer auch nur eines von den kleinsten Geboten aufhebt und die Menschen entsprechend lehrt, der wird im Himmelreich der Kleinste sein. Wer sie aber hält und halten lehrt, der wird groß sein im Himmelreich. (Mt 5,18-19)

Jesus lehrt nicht ein neues Gesetz. Er steht fest in den Geboten, die sein Vater dem Volk Israel gegeben hat. Aber wie Israel das Gesetz lebt, ist Gott zu wenig. Aus dem lebendigen Gebot Gottes hat Israel starre Vorschriften gemacht. Das ganze Leben war durch Gebote geregelt, aber es gab auch Ausnahmen, die dem eigentlichen Sinn des Gesetzes widersprachen. So wurde aus Gottes Gebot Menschengesetz. Jesus will diese starren Mauern des Gesetzes durchbrechen, nicht indem er Gottes Gesetz aufhebt, sondern indem er ihm seine ursprüngliche Lebendigkeit und Dynamik zurückgibt.

Dekalog und Bergpredigt sind nicht zwei verschiedene ethische Ideale, sondern der eine Ruf zum konkreten Gehorsam gegen den Gott und Vater Jesu Christi. (Dietrich Bonhoeffer)

Als Christen sind wir dazu aufgerufen, nie wieder die Menschen in die engen Mauern von Geboten zu sperren. Aber auch ein freizügiges "alles ist erlaubt" wäre die falsche Alternative. Immer neu nach Gottes Gebot fragen und in jedem Augenblick versuchen das zu tun, was Gott will, ist eine größere Herausforderung als einfältiger Legalismus. Sie bringt Spannung ins Leben und letztlich die Freude darüber, zu sehen, wie sich die Welt verändert und Gottes Licht in ihr erstrahlt.

Darum sage ich euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen. (Mt 5,20)

Recht kann man bezeichnen als ein Gefüge festgesetzter Verhaltensnormen, die als Gesetze schriftlich festgehalten sind. Gerechtigkeit aber ist mehr als die Summe dieser Gesetze. Das Recht soll sich an der Gerechtigkeit orientieren, aber trotzdem macht die genaue Befolgung der Gesetze allein einen Menschen nicht ohne weiteres schon gerecht.
Eine solche Auffassung aber hatten die Schriftgelehrten zur Zeit Jesu. Wenn ein Mensch die Zehn Gebote, das Gesetz des Mose und alle weiteren Gesetze, die fast jedes Detail des Alltags regeln sollten, genau befolgt, so galt er in ihren Augen als gerecht.
Jesus aber macht deutlich, dass Gerechtigkeit mehr ist. Sie fängt im Herzen an. Nicht erst die offensichtliche Übertretung eines Gesetzes ist Unrecht, sondern schon eine negative Haltung dem anderen Menschen gegenüber, so beispielsweise unversöhnlicher Zorn oder die Geringschätzung der eigenen Frau.
Wenn es zum Äußersten kommt, zu Mord, Ehescheidung oder Meineid, dann ist es meist zu spät für ein Zurück, für eine Versöhnung. Wir sollen bereits dann, wenn wir merken, dass etwas in der Beziehung nicht stimmt oder wir mit einem Menschen plötzlich in Streit geraten, prüfen woran es liegt, und unser Möglichstes tun, den Frieden wieder herzustellen.