Markus 2,1-12

Heilung d. Gelähmten

.
Heilige Schrift
Und als er wieder nach Kafarnaum hineinkam, einige Tage später, wurde bekannt, dass er im Haus ist. Und es versammelten sich viele, so dass kein Platz mehr war, nicht einmal an der Tür. Und er sagte ihnen das Wort. (Mk 2,1-2)

Nachdem sich Jesus längere Zeit in einsamen Gegenden aufgehalten hat, kehrt er wieder nach Kafarnaum zurück. Die Menschen strömen zu Jesus. Wir kennen diese Situation schon vom letzten Aufenthalt Jesu in Kafarnaum. Das Haus ist wohl auch diesmal wieder das Haus der Familien von Simon Petrus und Andreas. Dass Jesus dorthin zurück gekehrt ist, bleibt nicht verborgen. Die Menschen strömen herbei, das Haus ist voll und an der Tür drängeln sich die Menschen, um einen Blick auf Jesus zu erhaschen und seine Worte verstehen zu können. Das Wort, das Jesus zu ihnen spricht, ist das Evangelium von der angekommenen Gottesherrschaft. Unter der Volksmenge, die ins Haus strömt, sind auch, wie wir später erfahren, die offiziellen Vertreter der jüdischen Religion vor Ort, die Schriftgelehrten. Sie haben, wie es ihnen zukommt, die besten Plätze bei Jesus bekommen, haben sogar einen Sitzplatz und brauchen nicht wie die Menge im Gedränge zu stehen. All diese Menschen werden nun Zeugen eines einmalig-wunderbaren Ereignisses, das ihnen noch lange in Erinnerung bleiben wird.

Und sie kommen und bringen zu ihm einen Gelähmten, getragen von Vieren. Und weil sie ihn wegen der Menge nicht zu ihm bringen konnten, deckten sie das Dach ab, wo er war, gruben es auf und ließen die Pritsche herunter, auf der der Gelähmte lag. (Mk 2,3-4)

Neben der Volksmenge kommt nun eine kleine Gruppe ins Blickfeld. Vier Männer tragen einen Gelähmten herbei. Er liegt auf einer Pritsche, womit ein einfaches Bett, wie es bei den armen Leuten üblich war, gemeint ist. Die Rede Jesu scheint länger zu dauern und die Umstehenden, die sich ihren Platz erkämpft haben, sind nicht bereit, ihnen Platz zu machen. Da kommt ihnen die geniale Idee, den Gelähmten durch das Dach direkt vor Jesus hinunter zu lassen. Auf das Dach zu kommen, war nicht schwer, denn die Häuser hatten damals eine Treppe, die auf das Flachdach führte. Das Dach bestand gewöhnlich aus Balken, deren Zwischenräume mit einem Geflecht aus Zweigen, Schilf und Heu ausgefüllt waren und das dann mit einem gewalzten Lehm-Estrich überzogen war. Daher passt die Bezeichnung ganz gut, dass die Vier das Dach aufgruben. Dieser Vorgang blieb sicher im darunter liegenden Raum nicht unbemerkt und die Rede Jesu dürfte bereits von dem Lärm und den herunterfallenden Brocken empfindlich gestört worden sein, bis dann schließlich die vier Männer auf dem Dach und der Gelähmte auf seiner Pritsche durch das Loch hindurch sichtbar wurden.

Und als Jesus ihren Glauben sah, sagt er dem Gelähmten: Kind, erlassen werden deine Sünden. (Mk 2,5)

Entscheidend ist der Glaube des Gelähmten und seiner vier Begleiter. Kennen sie das, wenn man etwas wirklich will, wenn man sich von nichts und niemand von etwas abbringen lassen will und voll und ganz überzeugt ist, dass man das richtige tut und irgendwie weiß, dass es auch gelingen wird? So ähnlich muss es da gewesen sein. Als Jesus ihren Glauben sah ... heißt es. Sie haben nicht an ihrem Erfolg gezweifelt, ihren kranken Freund zu Jesus bringen zu können. Sie haben nicht daran gezweifelt, dass Jesus ihn heilen wird.
Ist das nicht ein eindrucksvolles Beispiel für den Glauben, der Berge versetzten kann, von dem Jesus später (11,23) sprechen wird? Das sehnliche Verlangen nach Heilung und die Zuversicht, bei Jesus Hilfe zu finden, sind so stark, dass der Kranke und seine Helfer sich auch durch das Hindernis, zu ihm zu gelangen, nicht abschrecken lassen, sondern einen sonst unüblichen Weg finden, um vor ihn zu kommen. Glaube, der Berge versetzen kann, meint also nicht eine wunderbare Zurschaustellung des Glaubens an Hand der Überwindung von Naturgesetzen, sondern das findige Überschreiten einer unüberwindbar erscheinenden von Menschen gesetzten Grenze. Der Glaubende bahnt sich seinen Weg durch alle Hindernisse hindurch. Diesen Glauben sieht und bewundert Jesus. An anderen Stellen sagt Jesus ausdrücklich: Dein Glaube hat dir geholfen. Hier ist dies implizit mitzudenken. Wer im Glauben zu Jesus kommt findet bei ihm Hilfe und Heilung.
Der Glaubende bleibt aber nicht Singulär, sondern tritt ein in die Gemeinschaft der Glaubenden. Dies macht Jesus deutlich, indem er den Gelähmten als Kind anredet. Die Glaubenden gehören als Kinder Gottes zur Familie Jesu.

"Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben!"
Sünde ist das, was einen Menschen lähmt, sie steht zwischen ihm und seinen Mitmenschen, zwischen ihm und seinem Gott.
Die Sünde hält den Menschen in sich gefangen und stört seine Beziehungen nach außen.
Sünde ist der Schatten über dem Licht der Liebe.
Die Befreiung von der Sünde befreit den Menschen aus seinem Kerker und lässt das Licht der Liebe wieder neu zu ihm dringen.
Erlösung macht frei für Begegnung mit Gott und dem Mitmenschen.
Jesus schenkt uns diese Befreiung, er spricht uns die Erlösung zu - kostenlos und unverdient.
Er wartet auf uns, dass wir zu ihm kommen - vielleicht über manche Umwege und über Hindernisse hinweg.
Er sehnt sich danach, uns das Wort der Erlösung zu sagen:
"Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben."

Aus der Heilungsgeschichte heraus entwickelt sich nun eine Diskussion um die Vollmacht Jesu. Jesus nimmt nämlich nicht einfach den Gelähmten bei der Hand, heilt ihn und lässt ihn dann gehen, sondern er sagt zunächst einmal: Deine Sünden werden erlassen. Darüber empören sich die anwesenden Schriftgelehrten und über den noch vor Jesu Füßen liegenden Gelähmten hinweg wird das Streitgespräch zwischen Jesus und den Schriftgelehrten geführt.

.
Heilige Schrift
Es saßen aber einige der Schriftgelehrten dort und dachten in ihren Herzen: Was redet dieser so? Er lästert! Wer kann Sünden erlassen, außer dem einen Gott? Und sofort erkennt Jesus in seinem Geist, dass sie so bei sich denken. Er sagt ihnen: Warum denkt ihr dies in euren Herzen? Was ist leichter, dem Gelähmten zu sagen: Erlassen werden deine Sünden!, oder zu sagen: Steh auf, nimm deine Pritsche und geh umher!? Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, auf der Erde Sünden zu erlassen - sagt er dem Gelähmten: Dir sage ich, steh auf, nimm deine Pritsche und los in dein Haus! Und er stand auf, nahm sofort seine Pritsche und ging vor allen weg, so dass sie alle außer sich gerieten, Gott priesen und sagten: So etwas haben wir noch nie gesehen. (Mk 2,6-12)

Das Verhalten Jesu mag uns verwunderlich erscheinen. Anstatt den Gelähmten zu heilen, sagt Jesus zu ihm: Deine Sünden sind dir vergeben. Und es geschieht scheinbar erst einmal nichts. Was mögen sich die vier Freunde des Gelähmten gedacht haben? Was die herumstehende Menge? Gedacht haben sich die Schriftgelehrten etwas und Jesus hat ihre Gedanken erkannt. Er spricht sie direkt darauf an: Was ist leichter, dem Gelähmten zu sagen: Erlassen werden deine Sünden!, oder zu sagen: Steh auf, nimm deine Pritsche und geh umher!?
Für uns, denke ich, ist beides gleich schwer. Keiner von uns würde es sich zutrauen, nur durch sein Wort einen Gelähmten zu heilen und keiner wird es sich anmaßen, einem anderen die Sünden zu vergeben. Als Anmaßung haben auch die Schriftgelehrten das Verhalten Jesu empfunden. Zur Sündenvergebung bedarf es einer Vollmacht. Diese Vollmacht hat letztlich nur Gott. Wenn Jesus Sünden vergibt, stellt er sich damit Gott gleich. Das war für die Schriftgelehrten ein unvorstellbares Verhalten.
Wie begegnen hier vereinfacht gesagt drei Gruppen von Menschen. Da ist zum einen der gebeugte Mensch, der sich in dem Gelähmten zeigt. Dies gibt die Erfahrung vieler Menschen wider, die ihr Leben als Mühsal und Leid sehen, die gefangen sind in den Erfordernissen des Alltags, in Krankheit und Not, die sich vorkommen wie ein kleines Rädchen im Getriebe der Welt oder ein unbedeutendes Staubkorn inmitten des Weltalls.
Dann gibt es den Menschen, der sich selbst erhebt. Dieser kommt zum Vorschein in den Schriftgelehrten. Sie meinen durch ihre eigene Anstrengung einen besseren Status erreicht zu haben als der Großteil der Menschen. Sie erheben sich über die Gebeugten und lassen die anderen spüren, dass sie etwas Besseres sind. Wenn man jedoch genauer hinsieht, so erkennt man, dass sich hinter ihrer Überheblichkeit nichts anderes verbirgt, als die allgemeine Gebeugtheit des Menschen.
Die dritte Gruppe ist der erhobene Mensch. Im Gegensatz zur Überheblichkeit, die der Mensch sich selbst verleiht, kommt das Erhobensein anderswo her. Der Mensch muss bereit sein, sich in die Hände eines anderen zu begeben, dem er ganz vertrauen kann und der ihm die Vergebung und das Heil zuspricht. Dieses Heil hat der Mensch nicht von sich aus, sondern wird ihm von Gott geschenkt. Das Vertrauen darauf, dass Gott das Heil schenkt und das Leben des Menschen trägt, ist Glaube.
Diesen Glauben zeigen der Gelähmte und seine Begleiter. Der Glaube an Jesus Christus erhebt den Gelähmten von seiner Pritsche, von seiner Krankheit und seinen Sünden. Die Schriftgelehrten aber, die diesen Glauben ablehnen, bleiben in ihrer eigenen Überheblichkeit gefangen.
Was ist leichter? Heil besteht nicht allein in der körperlichen Heilung. Freilich, diese ist wichtig, aber es gibt viele Menschen, die nicht die Möglichkeit haben, Genesung von ihrer Krankheit zu finden, aber dennoch die Möglichkeit haben, Heil zu erfahren. Jesus befreit den Gelähmten von der Last seiner Sünden. Vielleicht war er sich derer gar nicht bewusst. Er legt ja auch kein Bekenntnis seiner Sünden ab. Doch in seinem Glauben und dem seiner Begleiter ist der Akt der Reue mit enthalten. Indem er fern aller Überheblichkeit im Glauben den Weg zu Jesus sucht, macht er sich dazu bereit, sich von Jesus erheben zu lassen.
Eine rein äußerliche Heilung wäre sicher publikumswirksamer gewesen, weil ihr Erfolg direkt sichtbar ist, die Vergebung der Sünden aber ist auf den ersten Blick nicht sichtbar. Hätte Jesus den Gelähmten einfach nur geheilt, wären wohl alle zufrieden gewesen, die vier Freunde des Gelähmten hätten erreicht, was sie wollten, die Menge hätte ein weiteres Wunder Jesu miterlebt und die Schriftgelehrten hätten sich nicht empört. Doch Jesus geht nicht den leichteren Weg. Er will den Menschen zeigen, dass es nicht nur auf das äußerlich sichtbare ankommt. Es ist nicht genug, einen Menschen nur äußerlich heil zu machen. Wenn Jesus einen Menschen heilt, dann heilt er ihn ganz.
Der Anspruch Jesu, Sünden zu vergeben, hat Konsequenzen für ihn. Sünden kann nur Gott vergeben. Kein Mensch kann sich selbst und andere von den Sünden erlösen. Wir sind erlöst, weil in Jesus Gott selbst unsere Sünden auf sich genommen hat und sie getragen hat an das Holz des Kreuzes. Die Vergebung der Sünden ist also schwerer als die körperliche Heilung, weil sie den beschwerlichen Weg Jesu ans Kreuz zur Folge hat. Jesus hat diesen beschwerlicheren Weg gewählt , um allen das Heil zu schenken, die sich ihm im Glauben zuwenden.

Menschensohn

Jesus gebraucht den Begriff des Menschensohnes, als der er die Vollmacht hat, Sünden zu vergeben. Markus verwendet den Begriff Menschensohn zehnmal in seinem Evangelium. Den Zuhörern Jesu war er aus dem Alten Testament vertraut. Dort steht er vor allem in Zusammenhang mit apokalyptischen Vorstellungen. Der Menschensohn tritt an der Seite Gottes auf beim Gericht. Er hat also von Gott die Vollmacht der Sündenvergebung.
So wie der Menschensohn dereinst beim Gericht in der Macht Gottes über das Schicksal der Menschen entscheiden wird, so hat Jesus als Menschensohn auch schon hier auf Erden die Vollmacht, die Sünden der Menschen zu vergeben. In diesem Jesus steht Gott selbst als Mensch auf dieser Erde. Er ist es, an dem sich die Geister scheiden. Die Annahme oder Ablehnung seiner Person und Sendung entscheidet über Heil und Unheil des Menschen. Wer im Glauben zu Jesus kommt, erfährt das Heil, wer ihn aber ablehnt, bleibt in seinem eigenen Unheil gefangen.

Wenn wir uns dessen bewusst werden, was es bedeutet, dass Jesus wahrer Gott und wahrer Mensch ist und wenn wir glauben, dass wir in ihm Heil und Erlösung erfahren, dann dürfen auch wir heute wie die Leute damals ins Staunen kommen: So etwas haben wir noch nie gesehen.