Niemandem bleibt etwas schuldig, außer der gegenseitigen Liebe! (Röm 13,8a)
Im vorangegangenen Abschnitt hat Paulus von dem gesprochen, was alle Menschen und somit auch die Christen dem Staat schuldig sind. Es ging dabei um die Anerkennung der staatlichen Ordnung, um das Zahlen von Steuern und um den Erweis der den Vertretern des Staates gebührenden Ehre. Hier spricht Paulus nun von einer anderen Schuldigkeit, einer Schuldigkeit, die nicht so leicht bemessen werden kann wie die Steuer und die nicht nur äußerlich gezeigt werden kann wie Anerkennung staatlicher Gewalt, sondern die im Herz des Menschen ruht und unbegrenzt ist: die Liebe.
Vielleicht erkennen wir erst beim zweiten Hinsehen den Gegensatz zwischen den beiden Abschnitten. Es ist ja viel darüber diskutiert worden, was die Worte des Paulus bezüglich der Anerkennung der staatlichen Gewalt bedeuten und wie diese gerade auch im Hinblick auf die Unrechtsregime des 20. Jahrhunderts gelesen werden sollen. Vielleicht gibt uns gerade dieser Vers hierauf eine Antwort.
Staatliche Gewalt muss es geben und oft sind Christen eine Minderheit in dem Staat in dem sie leben. Wir sind durch die Jahrhunderte christlicher Herrschaft in Europa etwas verwöhnt, was das Verhältnis zwischen Christ und Staat angeht, aber selbst in christlichen Staaten gab es immer Konfliktpotential zwischen staatlicher Herrschaft und gelebtem Christentum. Die Aufspaltung der Christenheit in verschiedene Konfessionen ist nicht zuletzt auch Folge der Einflussnahme christlicher Herrscher auf die Form des Glaubens.br />
Paulus lehrt mit seiner Aufforderung zur Unterordnung unter staatliche Herrschaft also keineswegs den Kadavergehorsam gegenüber einem Unrechtsregime und verbietet auch nicht den Widerstand gegen ungerechte Willkürherrschaft des Staates. Paulus macht deutlich, dass über allem Handeln des Christen die Liebe stehen muss. Die Liebe ist die Kraft, die Menschen untereinander verbindet und wenn sie gelebt wird, ist sie die wirksamste Waffe gegen alles Böse und alle Ungerechtigkeit.
Dies mag vielleicht auf den ersten Blick naiv erscheinen, aber vielleicht auch nur deshalb, weil wir mit Liebe oft eine naive Gefühlsduselei verbinden. Die Liebe, von der Jesus und mit ihm auch Paulus spricht ist keine Schwäche, sondern vielmehr eine Kraft, die stärker ist als alles andere, die das Unrecht verdrängen und Berge versetzen kann. Diese Liebe zu leben bedeutet eine tägliche Herausforderung und wir werden immer wieder erfahren, dass wir dabei versagen. Es fängt schon damit an, dass wir uns schwer tun damit, diese Liebe zu verstehen. Ja wir können sie gar nicht verstehen, wenn wir sie nur mit unserem Verstand erfassen wollen.
Wer den andern liebt, hat das Gesetz erfüllt. Denn die Gebote: Du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht begehren! und alle anderen Gebote sind in dem einen Satz zusammengefasst: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. (Röm 13,8b-9)
Es fällt den Menschen immer leichter, sich an Regeln und Gebote zu halten. Hier kann man wenigstens genau messen, was man richtig gemacht hat und was nicht. Aber bei der Liebe? Da scheint der Willkür doch Tür und Tor geöffnet, dass jeder machen kann, was er will. Aber diese Liebe meinen Jesus und Paulus nicht. Liebe kann nur das sein, was dem anderen keinen Schaden zufügt, was dem anderen nichts Böses antut, und damit fällt schon vieles weg, was unter dem Deckmantel der Liebe vielleicht fälschlicherweise postuliert wird.
Liebe bedeutet immer ein "Mehr". Liebe ist mehr, als "nur" das Gesetz zu erfüllen, auch wenn das Gesetz noch so umfangreich und gut ist. Liebe ist mehr, als dem anderen nur das zu geben, was er nötig hat. Dass man niemanden etwas schuldig bleiben soll, war auch eine ethische Forderung in der antiken Welt. "Eine Hand wäscht die andere", heißt es, und "wie du mir, so ich dir". In der antiken Gesellschaft war ein Gleichgewicht von Geben und Nehmen weit verbreitet. In der Nachbarschaft half man sich gegenseitig aus und wer einem anderen etwas borgte, der sollte sicher sein können, dass er es wieder zurück bekam und in einer ähnlichen Situation selbst Hilfe erhielt. Das Geben hatte also in gewisser Weise immer auch ein Selbstzweck.
Aber es gibt etwas, das man nicht nach dieser Formel begleichen kann. Die Liebe gehorcht nicht dem Gesetzt des "do ut des", ich gebe, damit auch du mir gibst. Die Liebe kennt kein Maß. Man kann nicht sagen, man hat genug geliebt. Die Liebe verschenkt sich stets, auch da, wo sie nichts dafür zurückerwarten kann. Das macht die Liebe verletzlich. Kein Mensch kann gänzlich selbstlos lieben. Wir sind immer darauf angewiesen, dass auch wir Liebe erfahren, sonst verkümmern wir.
Der Mensch kann aber umso selbstloser Liebe schenken, je mehr er sich am Ursprung aller Liebe festmacht, an Gott. All unsere Liebe kommt letztlich von ihm, und er schenkt seine Liebe unbegrenzt. Wenn wir aus seiner Liebe leben, werden wir wie ein Brunnen, der immer überfließt, weil er von einer nie versiegenden Quelle gespeist wird.
Jesus, Quell der Liebe,
lass mich mit dir verbunden sein,
und mit offenen Händen schenken.
Mach mein Herz weit,
und lass mich keine Furcht davor haben,
dass meine Hände leer sind.
Denn nur wenn meine Hände leer sind,
kannst du sie füllen.
Hilf mir, ohne Grenzen zu schenken,
weil du selbst dich uns ganz schenkst.
Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. Also ist die Liebe die Erfüllung des Gesetzes. (Röm 13,10)
Wer liebt, hat das Gesetz erfüllt. So hat auch Jesus gehandelt, als der die Heilung eines Menschen über das Sabbatgebot oder die Reinheitsvorschriften der Juden stellte. Eine Tat aus Liebe hat immer Vorrang vor anderen Vorschriften. Aber dennoch muss die Liebe mit diesen Vorschriften im Einklang stehen. Liebe ist die Erfüllung des Gesetzes. Liebe bedeutet nicht, alle Gesetze außer Kraft zu setzen. Liebe hält sich an Regeln, ohne die jede Liebe zugrunde gehen würde. Liebe ist nicht Willkür, sie orientiert sich stets am Guten und somit an dem einen, der der Gute ist, an Gott.
Lasst uns also Gott lieben, wie er es will! Er hält dies für eine hochwichtige Sache. Wenn wir uns von ihm abwenden, so fährt er doch fort, uns zu rufen, wenn wir uns trotzdem nicht zu ihm wenden wollen, so straft er uns aus lauter Liebe, nicht um sich an uns zu rächen. ... Gott tut ja alles Mögliche, um von uns geliebt zu werden. Er hat deswegen nicht einmal seinen Sohn verschont. Aber wir sind gefühllos und hart. Aber lasst uns einmal weich werden, lasst uns Gott lieben, wie wir ihn lieben sollen, damit wir zugleich auch verkosten, wie süß diese Tugend ist! Denn wenn schon jemand, der eine geliebte Frau hat, die Widerwärtigkeiten des täglichen Lebens für nichts achtet, bedenke, welch süße Freude der genießen mag, den die reine Gottesliebe beseelt! Sie ist ja das Himmelreich, sie ist wahrer Genuss, sie ist süße Wonne, sie ist Frohsinn, sie ist Freude, sie ist Glückseligkeit, ja, was ich auch immer sagen mag, ich bin nicht imstande, einen rechten Begriff von ihr zu geben. Die eigene Erfahrung allein kann uns ihre Schönheit verstehen lassen.
Lasst uns also dieser Einladung folgen und schwelgen in der Liebe Gottes! So werden wir das Himmelreich schon hier auf Erden schauen, ein Leben nach Art der Engel führen, noch auf der Erde weilend nicht weniger haben als die Himmelsbewohner, nach unserem Tod herrlicher als alle vor dem Richterstuhl Christi stehen und unsägliche Herrlichkeit genießen. Diese möge uns allen zuteilwerden durch die Gnade und Liebe unseres Herrn Jesus Christus, dem Ehre sei in alle Ewigkeit. Amen. (Johannes Chrysostomus)