
Er küsse mich mit dem Kuss seines Mundes!
Ja, deine Liebkosungen sind süßer als Wein. (Hld 1,2)
Das Hohelied beginnt mit einem sehnsuchtsvollen Lied der Frau. Sie sehnt sich nach dem innigsten Zeichen der Liebe, dem Kuss des Mundes. Was könnte mehr die Liebe zwischen Menschen zum Ausdruck bringen, als ein inniger Kuss. Er zeigt die tiefe Verbindung zwischen Mann und Frau. Für Bernhard von Clairvaux wird dieser Kuss aber zugleich zu einem Symbol für die innige Verbindung von Vater und Sohn im Geheimnis der Dreifaltigkeit und die Hineinnahme des Menschen in diese Liebe durch den Heiligen Geist. Die Kirche wird als die Braut des Hohenliedes gedeutet, die ihre Kinder an ihrer liebenden Brust liebkost und so zu Christus führt.
Wir haben uns vorgenommen, heute über das Höchste zu sprechen, über den Kuss des Mundes. ... Als etwas Unaussprechliches, und über alle menschliche Erfahrung unendlich Erhabenes, hat meines Erachtens der Meister selbst diesen Kuss bezeichnet, als er sprach: "Niemand kennt den Sohn, nur der Vater, und niemand kennt den Vater, nur der Sohn, und der, dem es der Sohn offenbaren will." (Mt 11,27)
Der Vater liebt den Sohn und umarmt ihn mit unendlicher Glut, der Höchste den Wesensgleichen, der Ewige den Gleich-Ewigen, der Eine den Einzigen. Und nicht geringer ist die Liebe, mit welcher der Sohn wiederum am Vater hängt. ... Diese gegenseitige Erkenntnis und Liebe des zeugenden Vaters und des gezeugten Sohnes, was ist sie anderes als der wonnigste und geheimnisvollste Kuss?
Zu diesem großen, heiligen Geheimnis haben meiner festen Überzeugung nach nicht einmal die Engel Zutritt. ... Sieh wie die Braut den ersten Kuss empfing. Es war am Ostertag, als Jesus zu den Aposteln sprach: "Empfangt den Heiligen Geist!" Dieser Hauch des Geistes ist ohne Zweifel der Kuss gewesen. ... Der Kuss des Bräutigams heißt nichts anderes, als vom Heiligen Geist erfüllt zu werden.
Wenn wir den Vater betrachten als den Küssenden und den Sohn als den Geküssten, so können wir mit gutem Grund unter dem Kuss den Heiligen Geist verstehen, welcher das unzerstörbare Friedensband, die unteilbare Liebes- und Lebenseinheit zwischen Vater und Sohn ist.
Und seinetwegen wagt es die Seele. Dass er ihr eingegossen werde, bittet sie vertrauensvoll unter dem Bild des Kusses. Es ist kein aussichtsloses Wagnis. ... Die Braut verlangt kühn nach dem Heiligen Geist, in dem der Vater und der Sohn offenbar werden sollen. (Bernhard von Clairvaux)
Der Wein ist seit jeher ein Bild für Ausgelassenheit, Freude und Unbeschwertheit. In den Armen des Geliebten vergisst die Geliebte alle Sorgen. Alles ist heil, alles ist rein. Auch Gott will uns diese Geborgenheit schenken, dass wir und vor nichts mehr fürchten müssen und alles, was geschieht, mit ihm bewältigen, gemäß dem Wort Jesu: "Seid gewiss: Ich bin mit euch alle Tage bis zum Ende der Welt." (Mt 28,20)
Bernhard von Clairvaux stellt heraus, dass kein Mensch diese Süßigkeit der Umarmung vollkommen erfüllen könnte, allein die Kirche, die Braut Jesu Christi, vermag ihre Kinder mit solcher Wonne zu liebkosen.
Wer ist dieses Wortes wert? Wohl niemand von uns. Denn wo wäre der Vollkommene, der nicht zuweilen in seiner Rede trocken und unfruchtbar, im Wandel lau wäre? Doch eine ist es, die sich mit unbezweifelbarem Recht dieses herrlichen Wortes rühmen darf, nämlich die Kirche. Denn sie hat in ihrer universalen Gesamtheit nie Mangel an dem, woran sie trunken ist, worin sie köstlich duftet. Was ihr fehlt an einem Glied, hat sie in einem anderen, nach dem Gnadenmaß Christi und der Zuteilung des Heiligen Geistes, der jedem gibt, wie er will. ...
Die Kirche darf sich kühn und ohne Zagen "Braut" nennen, da ja in Wahrheit ihre Brüste süßer sind als Wein, da sie duftet nach herrlichen Salben. Wenn auch keiner von uns für sich allein in Anspruch nehmen darf, seine Seele eine Braut des Herrn zu nennen, so haben wir doch das Recht, an der bräutlichen Herrlichkeit der Kirche teilzunehmen. Denn wir gehören ja zur Kirche, und sie rühmt sich mit Recht des bräutlichen Namens und seines köstlichen Inhalts. Was wir alle in unserer Gemeinschaft voll und ganz besitzen, daran hat ohne Zweifel ein jeder von uns seinen Teil.
Dank dir, Herr Jesus, der du dich gewürdigt hast, uns deiner teuren Kirche zuzugesellen, nicht nur, dass wir den Glauben haben, sondern dass wir wie eine Braut in süßer, keuscher, ewiger Umarmung verbunden seien, wenn wir einst mit enthülltem Antlitz deine Herrlichkeit sehen, welche du gemeinsam hast mit dem Vater und dem Heiligen Geist in alle Ewigkeit. (Bernhard von Clairvaux)
Was ist mein Kirchenbild? Sehe ich in der Kirche mehr als eine Ansammlung von Menschen, von denen jeder einzelne mehr oder weniger Fehler macht? Kann ich erkennen, dass die Kirche heilig ist, auch wenn es nur wenig große Heilige in ihr gibt? Jesus Christus hat seine Kirche auf Erden gegründet als die Gemeinschaft aller, die an ihn glauben. Die Menschen haben sie zerteilt in viele Gruppierungen, die untereinander mehr oder weniger im Streit liegen. Wo erkennen wir heute die heilige Braut Christi, die ihre Kinder an ihrer liebenden Brust liebkosen möchte? Versuchen wir, hinter all dem Menschlich-Unvollkommenen die heilige Braut Christi zu sehen, deren Teil wir sind und die uns mit Christus vereinigt.
Der Duft deiner Salben ist lieblich,
ausgegossenes Salböl ist dein Name,
darum lieben dich die jungen Frauen.
Zieh mich hinter dir her, lasst uns eilen! (Hld 1,3-4a)
In diesen Versen finden wir viele Bilder, die ich hier nur ansatzweise erklären kann. Es ist vom lieblichen Duft der Salben die Rede. Wer bedenkt, dass die Menschen früherer Zeiten nicht über die Hygiene unserer westlichen Zivilisation verfügten und auch keine Abwassersysteme im heutigen Sinn kannten, kann verstehen, welchen Wert damals ein köstlicher Duft hatte. Nur die Vornehmen und Reichen konnten sich so etwas leisten. Die einfachen Leute lebten in ihren Hütten, in denen Viehstall und Wohnzimmer nicht immer klar getrennt waren.
Doch den Bräutigam des Hohenliedes umgibt ein köstlicher Duft. Man möchte ihm folgen, um möglichst lange diesen Duft in der Nase zu haben und nicht in den Mief des Alltags zurückkehren zu müssen. Es ist ein Hauch von Reichtum und Unbeschwertheit, der einen von der Last des Alltags befreit.
Lieblich ist auch der Name des Geliebten. Wer die Liebe kennt, wird wissen, welche Wirkung selbst der Name des geliebten Menschen auf einen hat. Er lässt das Herz höher schlagen, die Sehnsucht aufflammen. Auch der Name Gottes ist ein solches Sehnsuchtswort. Für die Juden war der Gottesname so heilig, dass sie ihn nicht mehr auszusprechen wagten. Im Mittelalter entwickelte sich eine Verehrung für den Namen Jesus, die so weit ging, dass sich beispielsweise ein Heinrich Seuse diesen Namen über seinem Herzen einritze. Auch bei Ignatius von Loyola finden wir diese Verehrung des Namens, die im "IHS"-Logo des Jesuitenordens bis heute ihr sichtbares Zeichen hat.
Köstlicher Wohlgeruch und die Lieblichkeit des Namens, all das steigert die Sehnsucht und lässt die Liebende dem Geliebten nacheilen, ja sie wird von ihm wie man sagt magisch angezogen. So soll auch für uns die Nachfolge Jesu sein. Wie die ersten Jünger, die alles liegen und stehen ließen soll auch uns die Begeisterung für Jesus im Innersten entfachen, so dass Nachfolge nicht ein lahmes uns mühsames sich Aufraffen wird, sondern ein froher und leichter Sprung in ungeahnte Höhen.
Der liebliche Duft, dem wir folgen, ist auch zu einem Bild für Maria geworden. In einer alten Antiphon am Hochfest der Aufnahme Mariens singen wir: