Markus 5,1-20

Heilung in Gerasa

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Und sie kamen auf die andere Seite es Meeres in das Gebiet der Gerasener. Und als er aus dem Boot stieg, kam ihm sofort aus den Grabmälern ein Mann mit einem unreinen Geist entgegen. Der hatte seine Behausung in den Grabmälern. (Mk 5,1-3a)

Nachdem sie den Widerstand des Meeres bezwungen haben, gelangen sie schließlich an das andere Ufer. Die Stadt Gerasa liegt etwa 60 km vom Ufer entfernt in der Dekapolis. Ob ihr Umland wirklich bis an den See reichte, ist eher unwahrscheinlich. Wichtig ist, dass es sich bei Gerasa um eine zutiefst heidnische Stadt handelt. Die folgende Szene spielt also im Heidenland, das Juden nur mit Furcht betreten. Wenn man genau liest, erkennt man auch, dass Jesus allein das Boot verlässt. Die Jünger bleiben erstmal noch zurück. Die Zeit ihrer Heidenmission ist noch nicht gekommen. Doch wenn die Zeit dafür da ist, dürfen auch sie sich genauso wie Jesus unerschrocken in fremde, heidnische Gebiete vorwagen.
Alles in der Erzählung weist auf die heidnische Umgebung hin und auf die Vorurteile, die Juden damit verbunden haben. Die Grabhöhlen vermitteln eine schaurige Umgebung. Die Stimmung, in der Jesus diese Gegend betritt, mutet an wie in einem Horrorfilm. Der Schockeffekt bleibt auch nicht aus, als ein Wahnsinniger plötzlich aus den Gräbern springt. Stephen King könnte es nicht besser inszenieren.

Man konnte ihn nicht bändigen, nicht einmal mit Fesseln. Schon oft hatte man ihn an Händen und Füßen gefesselt, aber er hatte die Ketten gesprengt und die Fesseln zerrissen; niemand konnte ihn bezwingen. Bei Tag und Nacht schrie er unaufhörlich in den Grabhöhlen und auf den Bergen und schlug sich mit Steinen. Als er Jesus von weitem sah, lief er zu ihm hin, warf sich vor ihm nieder und schrie laut: Was habe ich mit dir zu tun, Jesus, Sohn des höchsten Gottes? Ich beschwöre dich bei Gott, quäle mich nicht! Jesus hatte nämlich zu ihm gesagt: Verlass diesen Mann, du unreiner Geist!
Jesus fragte ihn: Wie heißt du? Er antwortete: Mein Name ist Legion; denn wir sind viele. Und er flehte Jesus an, sie nicht aus dieser Gegend zu verbannen.
Nun weidete dort an einem Berghang gerade eine große Schweineherde. Da baten ihn die Dämonen: Lass uns doch in die Schweine hineinfahren! Jesus erlaubte es ihnen. Darauf verließen die unreinen Geister den Menschen und fuhren in die Schweine und die Herde stürzte sich den Abhang hinab in den See. Es waren etwa zweitausend Tiere und alle ertranken.
Die Hirten flohen und erzählten alles in der Stadt und in den Dörfern. Darauf eilten die Leute herbei, um zu sehen, was geschehen war. Sie kamen zu Jesus und sahen bei ihm den Mann, der von der Legion Dämonen besessen gewesen war. Er saß ordentlich gekleidet da und war wieder bei Verstand. Da fürchteten sie sich.
Die, die alles gesehen hatten, berichteten ihnen, was mit dem Besessenen und mit den Schweinen geschehen war. Darauf baten die Leute Jesus, ihr Gebiet zu verlassen.
Als er ins Boot stieg, bat ihn der Mann, der zuvor von den Dämonen besessen war, bei ihm bleiben zu dürfen. Aber Jesus erlaubte es ihm nicht, sondern sagte: Geh nach Hause und berichte deiner Familie alles, was der Herr für dich getan und wie er Erbarmen mit dir gehabt hat. Da ging der Mann weg und verkündete in der ganzen Dekapolis, was Jesus für ihn getan hatte, und alle staunten. (Mk 5,3b-2)

Die Schweine sind ein charakteristischer Hinweis auf nichtjüdisches Gebiet. Bekanntlich gelten Schweine den Juden als unrein. Einer Schweineherde konnte man also in jüdischem Gebiet nicht begegnen. Die Verbindung des Namens "Legion" des Dämons mit dessen Hineinfahren in die Schweine hat zudem einen antiimperialistischen, gegen Rom gerichteten Akzent. Die Legio X Fretensis, die im Jüdischen Krieg (66-70) wesentlichen Anteil an der Eroberung Galiläas und Jerusalems hatte, führte einen Eber im Feldzeichen. Im von Rom besetzten Land träumt man davon, dass die römischen Schweine im Meer ersaufen.
Die Heilung des Besessenen stößt bei den Bewohnern des Landes nicht auf Zustimmung. Sie bitten Jesus, ihr Gebiet wieder zu verlassen. Einzig der Geheilte ist von Jesus überzeugt. Er möchte gerne bei Jesus sein wie seine Jünger. Doch Jesus verwehrt es ihm. Die Zeit ist noch nicht gekommen, dass Heiden in die Nachfolge Jesu treten.
Nicht immer ist es möglich, in die direkte Nachfolge Jesu einzutreten. Wohl deshalb, weil Jesus sieht, dass der Geheilte nicht zu den Menschen passen würde, zu denen er selbst gehen möchte. Zum jetzigen Zeitpunkt ist ein Heide im Gefolge Jesu undenkbar. Zudem könnten die Anstoß nehmen, weil sie nicht verstehen, was Jesus an ihm gewirkt hat. Schon seine Heilung hat ja bei den Umstehenden nicht zum Glauben geführt, sondern nur zu der Bitte, Jesus möge gehen. Zu unheimlich schien das, was geschehen ist.
Doch der Geheilte fügt sich in seine Situation. Er wendet sich nicht resigniert ab, weil Jesus ihn scheinbar abweist. Nein, er leistet, wie und wo er es kann, ein Werk der Übergebühr für Jesus. Jesus sagt zu ihm, er solle zu seiner Familie gehen und dort einfach nur melden, was Jesus ihm getan hat. Schaut mal, ich bin wieder gesund, Jesus hat die Dämonen aus mir ausgetrieben. Jetzt kann ich wieder bei euch zu Hause wohnen und muß nicht mehr in den abgelegenen Felsenhöhlen hausen. Doch er tut mehr, er verkündet im gesamten Umkreis, was Jesus für ihn getan hat und macht so die Heiden bereit für Jesu Botschaft.
Der Dienst der Verkündigung ist so vielleicht nicht immer an den Weg der direkten Nachfolge Jesu gebunden. Es gibt Menschen, die die Verkündigung Jesu und seiner Apostel nicht erreicht, weil diese Menschen ihnen einfach zu fremd sind. Und doch brauchen auch diese Menschen Verkündiger. Jesus und seine Apostel müssen zunächst zu den "normalen" Menschen gehen, das sind hier in erster Linie die Juden, im übertragenen Sinne die Menschen, die im Leben stehen, ihren Beruf ausüben, die Reichen und den Armen. Jesus weiß sich zunächst nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt.
Wie viele sitzen in ihrem Kerker, gefangen in Elend und Eisen, vertreiben Jesus und seine Boten und sehnen sich doch nach Befreiung. Kann nicht gerade dorthin der am besten gehen, der zwar im Elend hauste, aber sich doch nie in Ketten legen ließ, der sich trotz seiner Gefangenschaft im Elend doch die Freiheit bewahrte? Die Dämonen hielten ihn nieder, doch Jesus befreit ihn davon, weil er ihn dorthin senden will, wohin er selbst nicht gehen kann, nicht weil er es nicht vermochte, sondern weil es nicht seine Sendung ist.
So gibt es auch bei uns Menschen, denen Jesus sagt: Folgt mir nicht auf dem "normalen" Weg als Priester in der Kirche. Ich brauche auch Menschen, die dorthin gehen, wohin kein Priester kommt. Auch dort kannst du verkündigen. Sei gewiss, ich bin bei dir, fürchte dich nicht. Der Geheilte von Gerasa wurde zum ersten Verkünder Jesu im Heidenland.