Markus 4,35-41

Sturm auf dem Meer

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Seesturm
Und er sagt zu ihnen an jenem Tag, als es Abend geworden war: Lasst uns hinüberfahren auf die andere Seite! Und sie entlassen die Volksmenge und nehmen ihn mit, wie er im Boot war. Und andere Boote waren bei ihnen. (4,35-36)

Wir befinden uns immer noch im ersten Hauptteil des Evangeliums. Jesu Wirken bleibt auf das Gebiet rings um das Meer, den See von Galiläa, begrenzt. Und doch wagt sich Jesus nun sozusagen weiter hinaus. Er scheut sich nicht, auch überwiegend heidnisches Gebiet zu betreten. Dabei bekommt er mächtig "Gegenwind" und seine Jünger stehen diesem Vorhaben eher skeptisch gegnüber. Sicher nicht ohne literarische Absicht berichtet Markus in diesem Teil von zwei Stürmen auf dem See, die Jesus mit seinen Jüngern zu bestehen hat.
Für Juden ist die kultische Reinheit von höchster Priorität. Durch ihre besonderen Reinheitsvorschriften sondern sich die Juden von allen anderen Völkern ab. Die Juden lebten zwar durchaus auch in heidnischer Umgebung (Diasporajuden), doch sie vermischten sich nicht mit den anderen Völkern. Ihre Reinheitsgebote ließen sie ihre eigene Identität wahren. Die Juden standen immer vor der Frage, wie weit sie sich auf das Andere einlassen dürfen. Zur Zeit Jesu stand man dieser Frage im jüdischen Kernland sicher strenger gegenüber als in der Diaspora. Indem Jesus überwiegend heidnisches Gebiet betritt, macht er einen riskanten Schritt. Der Sturm auf dem See kann als Symbol für den Widerstand angesehen werden, der ihm von jüdischer Seite her dafür sicher ist. Nicht zufällig widmet sich das siebte Kapitel auch ausführlich der Frage nach Reinheit und Unreinheit.

Am Tag hat Jesus eine Rede vor einer großen Volksmenge gehalten. Viele Menschen waren in Booten auf dem See unterwegs, um bei Jesus zu sein. Viele bleiben auch jetzt bei dem Boot, in dem Jesus mit seinen Jüngern ist.
"Wir wollen ans andere Ufer hinüberfahren." Dieser Satz Jesu ist nicht so harmlos, wie er auf den ersten Blick erscheinen mag. Am anderen Ufer des Sees Gennesaret wohnen Heiden. Von denen hält sich jeder fromme Jude am besten fern. Auch bei uns ist es ja nicht gerade löblich, von einem zu sagen, er käme vom anderen Ufer. Doch Jesus scheut sich nicht, mit den Menschen vom anderen Ufer Kontakt aufzunehmen, auch wenn er dabei mächtig "Gegenwind" bekommt. Der Sturm auf dem See kann als Symbol für den Widerstand angesehen werden, der Jesus von jüdischer Seite her sicher ist.

Da kommt ein gewaltiger Sturm auf. Und die Wellen warfen sich auf das Boot, so dass das Boot schon vollief. Und er selbst war im Heck und schlief auf einem Kopfkissen. Und sie weckten ihn und sagten zu ihm: Meister, kümmert es dich nicht, dass wir zugrunde gehen? (4,37-38)

Stürme waren auf dem See Gennesaret nichts Ungewöhnliches. Die Fischer unter den Jüngern Jesu waren damit bestens vertraut. Sie wissen, dass es den Tod bedeuten kann, in so einen heftigen Sturm zu geraten. Daher sehen sie sich in ihrer Angst und Sorge berechtigt und können nicht verstehen, dass Jesus von all dem nichts mitbekommt. Sie wecken ihn und machen es ihm zum Vorwurf, dass er sich aus ihrer Sicht nicht gebührend um sie sorgt. Doch Jesus geht auf den Vorwurf nicht ein. Er steht über den Dingen und bringt mit unglaublicher Lässigkeit das Meer zur Ruhe. Seine Worte sind dieselben, die er auch den Dämonen zuruft. "Schweig! Verstumme!"

Und aufgeweckt herrschte er den Wind an und sagte zum Meer: Schweig! Verstumme! Und der Sturm legte sich, und es entstand große Stille. Und er sagte zu ihnen: Was seid ihr feige? Habt ihr noch keinen Glauben? Und sie fürchteten sich sehr und sagten zueinander: Wer ist denn dieser, dass ihm sogar der Wind und das Meer gehorchen? (4,39-41)

Damit haben die Jünger nicht gerechnet. Nun werden sie auch noch dafür getadelt, dass sie Jesus geweckt haben. Dabei erschien es aus ihrer Sicht mehr als berechtigt, Jesus auf die lebensgefährliche Situation aufmerksam zu machen. Doch Jesus lässt ihre Angst nicht gelten. Für ihn ist sie nur das Zeichen ihrer Feigheit und ihres Kleinglaubens. Die Jünger kennen Jesus noch nicht wirklich. Wer ist dieser? fragen sie sich. Auf wen haben wir uns da eingelassen? Es wird noch einige Zeit dauern, bis Petrus im Namen aller das Christusbekenntnis ablegt und selbst dann werden wir sehen, dass sie Jesus immer noch nicht wirklich kennen.
Die Erzählung vom Seesturm lässt uns denken an das Buch Jona. Als der Prophet vor Gott fliehen möchte, hindert ein heftiger Sturm das Schiff am Weiterkommen. Es droht unterzugehen, und nur dadurch, dass die Seeleute Jona ins Meer werfen, kann der Sturm besänftigt werden, die Seeleute können ihre Fahrt fortsetzen, Gott aber bringt den Jona durch einen großen Fisch an den Ort zurück, wo er ihn haben möchte.
Der Seesturm im Evangelium erfordert kein "Opfer". Jesus hat die Macht, den widrigen Mächten, die ihn an der Überfahrt hindern wollen, Einhalt zu gebieten. Zudem ist eine weise Unterscheidung der Geister gefordert, denn offensichtlich bedienen sich Gott und die widergöttlichen Mächte derselben Phänomene. War es im Buch Jona Gott selbst, der sich des Sturms bedient hatte, so ist es im Evangelium nicht Gott, der die Überfahrt verhindern will, sondern die gottfeindlichen Mächte wollen verhindern, dass Jesus mit seinem Evangelium auch zu den Heiden kommt. Doch Gottes Macht, die sich in Jesus erweist, ist stärker. Sie ist stärker als aller Kleinglaube und alle Vorurteile, von denen auch die Jünger Jesu nicht frei sind.