Weisheit 6,22-8,21

Die Gabe der Weisheit

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Leben
Ich will verkünden, was die Weisheit ist und wie sie wurde, und will euch kein Geheimnis verbergen. Ich will ihre Spur vom Anfang der Schöpfung an verfolgen, ihre Kenntnis will ich verbreiten und nicht an der Wahrheit vorbeigehen. Verzehrender Neid soll mich nicht auf meinem Weg begleiten; denn er hat mit der Weisheit nichts gemein. Eine große Anzahl von Weisen ist Heil für die Welt, ein kluger König ist Wohlstand für das Volk. Lasst euch also durch meine Worte unterweisen; es wird euch von Nutzen sein.
Auch ich bin ein sterblicher Mensch wie alle anderen, Nachkomme des ersten, aus Erde gebildeten Menschen. Im Schoß der Mutter wurde ich zu Fleisch geformt, zu dem das Blut in zehn Monaten gerann durch den Samen des Mannes und die Lust, die im Beischlaf hinzukam. Geboren atmete auch ich die gemeinsame Luft, ich fiel auf die Erde, die Gleiches von allen erduldet, und Weinen war mein erster Laut wie bei allen. In Windeln und mit Sorgen wurde ich aufgezogen; kein König trat anders ins Dasein. Alle haben den einen gleichen Eingang zum Leben; gleich ist auch der Ausgang.
Daher betete ich und es wurde mir Klugheit gegeben; ich flehte und der Geist der Weisheit kam zu mir. Ich zog sie Zeptern und Thronen vor, Reichtum achtete ich für nichts im Vergleich mit ihr. Keinen Edelstein stellte ich ihr gleich; denn alles Gold erscheint neben ihr wie ein wenig Sand und Silber gilt ihr gegenüber so viel wie Lehm. Ich liebte sie mehr als Gesundheit und Schönheit und zog ihren Besitz dem Lichte vor; denn niemals erlischt der Glanz, der von ihr ausstrahlt. Zugleich mit ihr kam alles Gute zu mir, unzählbare Reichtümer waren in ihren Händen. Ich freute mich über sie alle, weil die Weisheit lehrt, sie richtig zu gebrauchen, wusste aber nicht, dass sie auch deren Ursprung ist. Uneigennützig lernte ich und neidlos gebe ich weiter; ihren Reichtum behalte ich nicht für mich. Ein unerschöpflicher Schatz ist sie für die Menschen; alle, die ihn erwerben, erlangen die Freundschaft Gottes. Sie sind empfohlen durch die Gaben der Unterweisung.
Mir aber gewähre Gott, nach meiner Einsicht zu sprechen und zu denken, wie die empfangenen Gaben es wert sind; denn er ist der Führer der Weisheit und hält die Weisen auf dem rechten Weg. Wir und unsere Worte sind in seiner Hand, auch alle Klugheit und praktische Erfahrung. Er verlieh mir untrügliche Kenntnis der Dinge, sodass ich den Aufbau der Welt und das Wirken der Elemente verstehe, Anfang und Ende und Mitte der Zeiten, die Abfolge der Sonnenwenden und den Wandel der Jahreszeiten, den Kreislauf der Jahre und die Stellung der Sterne, die Natur der Tiere und die Wildheit der Raubtiere, die Gewalt der Geister und die Gedanken der Menschen, die Verschiedenheit der Pflanzen und die Kräfte der Wurzeln. Alles Verborgene und alles Offenbare habe ich erkannt; denn es lehrte mich die Weisheit, die Meisterin aller Dinge.
In ihr ist ein Geist, gedankenvoll, heilig, einzigartig, mannigfaltig, zart, beweglich, durchdringend, unbefleckt, klar, unverletzlich, das Gute liebend, scharf, nicht zu hemmen, wohltätig, menschenfreundlich, fest, sicher, ohne Sorge, alles vermögend, alles überwachend und alle Geister durchdringend, die denkenden, reinen und zartesten. Denn die Weisheit ist beweglicher als alle Bewegung; in ihrer Reinheit durchdringt und erfüllt sie alles. Sie ist ein Hauch der Kraft Gottes und reiner Ausfluss der Herrlichkeit des Allherrschers; darum fällt kein Schatten auf sie. Sie ist der Widerschein des ewigen Lichts, der ungetrübte Spiegel von Gottes Kraft, das Bild seiner Vollkommenheit. Sie ist nur eine und vermag doch alles; ohne sich zu ändern, erneuert sie alles. Von Geschlecht zu Geschlecht tritt sie in heilige Seelen ein und schafft Freunde Gottes und Propheten; denn Gott liebt nur den, der mit der Weisheit zusammenwohnt. Sie ist schöner als die Sonne und übertrifft jedes Sternbild. Sie ist strahlender als das Licht; denn diesem folgt die Nacht, doch über die Weisheit siegt keine Schlechtigkeit. (Weish 6,22-7,30)

Im siebten Kapitel wird die Weisheit als größter aller Reichtümer gepriesen. Der Beter sehnt sich nach der Weisheit. Sie ist das Kostbarste, das er sich vorstellen kann. Alles andere verblasst vor ihrem Glanz. Kein Edelstein kann ihr gleichen. Für sie achtet er alle irdischen Güter gering, und doch fallen sie ihm zu, weil er die Weisheit hat, die größer ist als alles andere.
Erst wenn wir unseren Blick vom Glitzer dieser Welt abwenden, können wir den wahren Glanz erkennen. So lange unsere Augen vom Glanz des Irdischen geblendet sind, können sie nicht wirklich sehen. Wir jagen den vergänglichen Gütern nach, verausgaben uns ganz in der Jagd nach ihnen und stehen dann am Ende erschöpft und mit leeren Händen da.
Die Weisheit schenkt uns die Fülle des Lebens. Sie zu erlangen erscheint zunächst als Verzicht. Ich muss letztlich alles geben, was ich habe, um sie zu erlangen. Das bedeutet nicht, dass ich erst bettelarm sein muss, um Weisheit zu finden. Aber ich muss aufhören, mein Herz an die irdischen Dinge zu hängen. Ich muss mich frei machen von ihnen. Das ist vielleicht noch schwerer, als alles herzugeben. Ich kann all mein Hab und Gut verlieren und bin doch nicht automatisch dadurch ein weiser Mensch. Es kommt auf die innere Haltung an. Das Herz muss frei sein nach der Gier nach irdischen Gütern.
Gerade in unserer kapitalistischen Welt regiert das Gesetz des Geldes. Es geht allein ums Haben-Wollen. Immer mehr. Kaufen, Kaufen, Kaufen. Überall bekommen wir vor Augen geführt, was wir noch brauchen, um glücklich zu sein. Gönne es dir, du bist es wert. Was bin ich wert? Letztlich wird der Wert des Menschen auf das reduziert, was er sich leisten kann.
Wir wollen immer mehr haben, denn was ich mir nicht nehme, das nimmt sich ein anderer. Wer da nicht mit macht, ist am Ende der Dumme. Greifen sie zu, jetzt und sofort. So eine Chance bietet sich nie wieder. Und wir laufen in unserem Hamsterrad, um den Anschluss nicht zu verlieren und nicht ins Hintertreffen zu geraten.

Es gibt aber ein anderes Gesetz, das stärker ist als das Gesetz des Geldes. Es ist das Gesetz des Schenkens. Wer gibt, der wird nicht verlieren, sondern mehr erhalten, wer loslässt, dem fallen alle Schätze zu. Das gilt es zu verstehen.
Glauben wir überhaupt noch daran, dass es etwas gibt, das wertvoller ist, als materieller Besitz? Oder ist unser Glauben nur ein Beiwerk zu unserem Leben? Vielleicht können deshalb so viele Menschen nichts mehr mir der Kirche und dem Glauben anfangen. Kirche, wenn sie überhaupt noch einen Platz im Leben hat, läuft so nebenher. Die Vorbereitung zur Erstkommunion oder Firmung als Spaßprogramm neben anderem, eine schöne Feier an besonderen Punkten des Lebens ... Aber der Glaube, als Mittelpunkt unseres Lebens, als Kraftquelle aus der alles strömt?
Nicht durch eigene Anstrengung kann der Mensch Weisheit erhalten. Es bedarf der Demut, sich klein zu machen vor Gott, seine eigene Unfähigkeit zu erkennen - und sich dann von Gott alles schenken zu lassen. Auch heute gibt es viele Menschen, die ernsthaft auf der Suche sind nach Gott, die über Theologie und Glauben besser Bescheid wissen als viele, die regelmäßig zur Kirche gehen, die sich aber ihren Glauben selbst machen wollen. Thomas Merton sagt:

In gewissem Sinne kennen diese Menschen die Kirche und den Katholizismus besser als manche Katholiken ... Aber sie treten der Kirche nicht bei. Sie stehen hungernd an der Türe zum Gastmahl - und sie erkennen sicher, dass sie eingeladen sind -, während ärmere, dümmere, weniger begabte und weniger gebildete, oft auch weniger tugendhafte Menschen als sie eintreten und sich an die herrlichen Tafeln setzen.

Wir stehen uns manchmal selbst im Weg, vieles könnte so einfach sein. Wir machen uns das Leben mit unseren eigenen Regeln kompliziert. Nach menschlichem Ermessen könnte niemand Weisheit erlangen, weil kein Mensch sich wirklich ganz vom Irdischen lösen kann und ohne Fehler ist. Doch Gott kennt und Menschen. Er will uns das schenken, was wir niemals aus eigener Kraft erreichen könnten. Das ist die Zuversicht, die wir haben dürfen und auf die wir unser Leben bauen können.

Herr, gib uns den Mut zu Demut, damit wir uns von dir das schenken lassen, was wir nicht selbst erlangen können.