Jesus Sirach

Einführung

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Jesus Sirach
Vieles und Großes ist uns durch das Gesetz, die Propheten und die anderen Schriften, die ihnen folgen, geschenkt worden. Dafür ist Israel zu loben wegen seiner Bildung und Weisheit. Doch soll jeder, der sie zu lesen versteht, nicht nur sich selbst daran bilden, sondern die Gelehrten sollen auch imstande sein, andere durch Wort und Schrift zu fördern.
So befasste sich mein Großvater Jesus sorgfältig mit dem Gesetz, mit den Propheten und mit den anderen von den Vätern überkommenen Schriften. Er verschaffte sich eine gründliche Kenntnis von ihnen und fühlte sich dann gedrängt, auch selbst etwas zu schreiben, um dadurch Bildung und Weisheit zu fördern. Wer es sich mit Liebe aneignet, wird es in einem gesetzestreuen Leben noch vermehren. Ihr seid nun aufgefordert, mit Wohlwollen und Aufmerksamkeit zu lesen. Doch mögt ihr Nachsicht üben, wenn wir vielleicht einige der schwer zu übersetzenden Ausdrücke unbefriedigend wiedergegeben haben. Es ist ja nicht gleich, ob man etwas in der hebräischen Grundsprache liest oder ob es in eine andere Sprache übertragen wird. Nicht nur dieses Buch, sondern auch das Gesetz, die Propheten und die übrigen Schriften weisen keinen geringen Unterschied auf, wenn man sie in der Grundsprache liest.
Ich kam im achtunddreißigsten Jahr des Königs Euergetes nach Ägypten und hielt mich dort eine Zeit lang auf. Da ich dort eine ähnlich hohe Bildung vorfand, habe ich es für notwendig gehalten, auch selbst Fleiß und Mühe aufzuwenden, um dieses Buch zu übersetzen. Inzwischen habe ich mit rastlosem Eifer und mit Sachkenntnis das Werk abgeschlossen, um es für jene herauszugeben, die sich auch in der Fremde weiterbilden wollen und sich vorgenommen haben, nach dem Gesetz zu leben.

Das Buch Jesus Sirach weist eine komplexe Entstehungsgeschichte auf und es ist das einzige Buch der Bibel, dem ein Vorwort vorangestellt ist. In diesem Vorwort gibt der Enkel eines gewissen Jesus an, eine Weisheitsschrift seines Großvaters ins Griechische übersetzt zu haben. Aus den Zeitangaben lässt sich darauf schließen, dass der hebräische Text etwa um das Jahr 180 v.Chr., die griechische Übersetzung um das Jahr 130 v.Chr. entstanden ist. Der hebräische Urtext des Buches ist nicht erhalten, jedoch wurden im 19. und 20. Jahrhundert verschiedene Fragmente eines hebräischen Textes des Buches gefunden. Diese weisen aber Unterschiede zum griechischen Text auf und zudem unterscheidet sich auch die lateinische Übersetzung des Buches teilweise stark vom griechischen Text.
Das Buch zählt im Judentum zu den apokryphen Schriften, ist also nicht Teil des jüdischen Kanons, gibt aber im Vorwort selbst einen deutlichen Hinweis auf den Kanon der jüdischen Schriften, der aus „dem Gesetz, den Propheten und den anderen von den Vätern überkommenen Schriften“ besteht. Sowohl Großvater als auch Enkel lebten in Jerusalem und waren sehr gebildet und mit den Heiligen Schriften bestens vertraut. Näheres wissen wir jedoch nicht über deren Leben. Der Titel des Buches lautet in der rabbinischen Tradition Ben Sira, im Griechischen Jesus Sirach und im Lateinischen Ecclesiasticus.
Das Buch Jesus Sirach ist eine Weisheitsschrift, die in Auseinandersetzung mit dem Hellenismus der jüdischen Jugend und den Gebildeten die Tiefe der jüdischen Weisheit vermitteln will. Wichtige Themen des Buches sind die Frage nach der Weisheit und der Gottesfurcht uns das Lob der Weisheit in Kapitel 24 bildet den Höhepunkt des Buches. Das Buch ist zudem geprägt von einer priesterlichen Tradition, die nicht zuletzt in der Beschreibung alttestamentlicher Gestalten und im Lob des zeitgenössischen Hohenpriesters Simeon zum Ausdruck kommt. Im Hintergrund stehen hier sicherlich die Auseinandersetzungen der hellenistischen Zeit, in denen verschiedene Parteiungen um das Amt des Hohenpriesters rangen, die teilweise sehr hellenistisch geprägt waren, teilweise in starker Opposition zum Hellenismus standen.
Der Verfasser des Buches hat in den aufkommenden Hellenisierungsbestrebungen innerhalb des Judentums, die wenig später zu den Konflikten der Makkabäerzeit führten, Stellung bezogen. Dies geschieht in offener und kritischer Auseinandersetzung mit den geistigen Strömungen des Hellenismus. Er versucht, die jüdische Weisheitstradition in die hellenistische Kultur zu übersetzen, um so seine Leser zu einer Art modernem Judentum zu führen, das die Traditionen der Väter in Ehre hält, weil sie allein Aufschluss über den Kosmos und seine Ordnungen geben. Dabei betont es die ausdrückliche Verbindung der universalen göttlichen Weisheit mit dem Volk Israel. Seine maßvolle Stimme hat sich jedoch nicht durchgesetzt.
Das Buch wird im Neuen Testament öfter zitiert und manche Stellen werden besonders an Heiligenfesten im Kirchenjahr gelesen. Die ersten Verse des Buches bringen die Bedeutung der beiden Hauptthemen Weisheit und Gottesfurcht zum Ausdruck:

Alle Weisheit stammt vom Herrn und ewig ist sie bei ihm. (Sir 1,1)

Die Gottesfurcht ist Ruhm und Ehre, Hoheit ist sie und eine prächtige Krone.
Die Gottesfurcht macht das Herz froh, sie gibt Freude, Frohsinn und langes Leben.
Dem Gottesfürchtigen geht es am Ende gut, am Tag seines Todes wird er gepriesen.
Anfang der Weisheit ist die Gottesfurcht, den Glaubenden ist sie angeboren. (Sir 1,11-14)
Das Wort der Bibel, dass die Furcht Gottes der Anfang der Weisheit sei, sagt, dass die innere Befreiung des Menschen zum verantwortlichen Leben vor Gott die einzige wirkliche Überwindung der Dummheit ist. (Dietrich Bonhoeffer)