Psalm 73 (72)

Das Tun der Frevler

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[Ein Psalm Asafs.]
Lauter Güte ist Gott für Israel, für alle Menschen mit reinem Herzen.
Ich aber - fast wären meine Füße gestrauchelt, beinahe wäre ich gefallen.
Denn ich habe mich über die Prahler ereifert, als ich sah, dass es diesen Frevlern so gut ging.
Sie leiden ja keine Qualen, ihr Leib ist gesund und wohlgenährt.
Sie kennen nicht die Mühsal der Sterblichen, sind nicht geplagt wie andere Menschen.
Darum ist Hochmut ihr Halsschmuck, wie ein Gewand umhüllt sie Gewalttat.
Sie sehen kaum aus den Augen vor Fett, ihr Herz läuft über von bösen Plänen.
Sie höhnen, und was sie sagen, ist schlecht; sie sind falsch und reden von oben herab.
Sie reißen ihr Maul bis zum Himmel auf und lassen auf Erden ihrer Zunge freien Lauf.
Darum wendet sich das Volk ihnen zu und schlürft ihre Worte in vollen Zügen.
Sie sagen: «Wie sollte Gott das merken? Wie kann der Höchste das wissen?»
Wahrhaftig, so sind die Frevler: Immer im Glück, häufen sie Reichtum auf Reichtum.
Also hielt ich umsonst mein Herz rein und wusch meine Hände in Unschuld.
Und doch war ich alle Tage geplagt und wurde jeden Morgen gezüchtigt.
Hätte ich gesagt: «Ich will reden wie sie», dann hätte ich an deinen Kindern Verrat geübt.
Da sann ich nach, um das zu begreifen; es war eine Qual für mich,
bis ich dann eintrat ins Heiligtum Gottes und begriff, wie sie enden.
Ja, du stellst sie auf schlüpfrigen Grund, du stürzt sie in Täuschung und Trug.
Sie werden plötzlich zunichte, werden dahingerafft und nehmen ein schreckliches Ende,
wie ein Traum, der beim Erwachen verblasst, dessen Bild man vergisst, wenn man aufsteht.
Mein Herz war verbittert, mir bohrte der Schmerz in den Nieren;
ich war töricht und ohne Verstand, war wie ein Stück Vieh vor dir.
Ich aber bleibe immer bei dir, du hältst mich an meiner Rechten.
Du leitest mich nach deinem Ratschluss und nimmst mich am Ende auf in Herrlichkeit.
Was habe ich im Himmel außer dir? Neben dir erfreut mich nichts auf der Erde.
Auch wenn mein Leib und mein Herz verschmachten, Gott ist der Fels meines Herzens und mein Anteil auf ewig.
Ja, wer dir fern ist, geht zugrunde; du vernichtest alle, die dich treulos verlassen.
Ich aber - Gott nahe zu sein ist mein Glück. Ich setze auf Gott, den Herrn, mein Vertrauen. Ich will all deine Taten verkünden. (Ps 73,1-28)

Wie mit einer These beginnt dieser Psalm:

Wie gut ist Gott für die Gerechten, für die, die reinen Herzens sind!

Doch dann beginnt der Beter zu zweifeln. Die Erfahrung zeigt ihm genau das Gegenteil. Die Menschen, denen es gut geht, sind gerade nicht die, die Gott suchen und mit reinem Herzen leben. Ist es nicht besser, sein Leben in Saus und Braus zu genießen, ohne Rücksicht auf andere, ohne Gott? Ist nicht der ein Verlierer, der Rücksicht nimmt und ehrlich ist?

Nutzlos ist es, dass ich mein Herz rein gehalten habe!

Der Beter schreit seine Not mit Gott heraus, die Frömmigkeit bringt doch nur Schmerzen und Züchtigung, keine Freude. Aber dennoch, der Beter kann nicht leben wie ein Frevler, das wäre Verrat an seinen Glaubensgenossen, Verrat an Gott. Unverstand ist es, dass er überhaupt so denken kann. Lange sinnt er über diese Frage nach und dann, ganz plötzlich, beim Eintreten in das Heiligtum, kommt ihm die Erkenntnis.

Ich sann nach, um zu begreifen, es war eine Qual für mich, bis ich dann eintrat ins Heiligtum Gottes – und begriff.

Die Erfahrung von Gottes Gegenwart reißt den Beter aus seinen Zweifeln. Für den frommen Juden war der Tempel der Ort, an dem Gott in ganz besonderer Weise in dieser Welt anwesend ist, hier wurde die Gegenwart Gottes erfahrbar. Die Wallfahrt nach Jerusalem – zu den großen Wallfahrtsfesten des Volkes – war sicher eine der einprägendsten Erfahrungen des Glaubens.
Im Christentum kennen wir auch Feierlichkeiten, bei denen in der Gemeinde die Nähe Gottes in besonderer Weise erfahrbar wird. Für Christen ist nicht mehr der Tempel der Ort der Gegenwart Gottes in der Welt, sondern Gott ist gegenwärtig in Jesus Christus, und das in ganz besonderer Weise in der Heiligen Messe und der Eucharistie. Hier kann ich heute die Erfahrung machen, dass Gott mir nahe ist, und diese Erfahrung kann mein Leben tragen, durch alle Zweifel und schweren Stunden hindurch. So kann ich mit dem Beter einstimmen in die Worte, die die Freude und das Glück über Gottes Nähe zum Ausdruck bringen:

Ich bleibe immer bei dir, du hältst mich an meiner Rechten.
Was habe ich im Himmel außer dir?
Neben dir erfreut mich nichts auf der Erde.
Gott nahe zu sein ist mein Glück.