Ezechiel 33,1-33

Prophet als Wächter

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Ezechiel
Das Wort des Herrn erging an mich: Menschensohn, sprich zu den Söhnen deines Volkes und sag zu ihnen: Wenn ich über ein Land das Schwert kommen lasse und das Volk in dem Land aus seiner Mitte einen Mann wählt und ihn zu seinem Wächter macht und wenn dieser Wächter das Schwert über das Land kommen sieht, in das Widderhorn bläst und das Volk warnt und wenn dann jemand den Schall des Horns zwar hört, sich aber nicht warnen lässt, sodass das Schwert kommt und ihn dahinrafft, dann ist er selbst schuld an seinem Tod. Denn er hat den Schall des Horns zwar gehört, sich aber nicht warnen lassen; deshalb ist er selbst schuld an seinem Tod. Wenn er sich jedoch warnen lässt, dann hat er sein Leben gerettet. Wenn aber der Wächter das Schwert kommen sieht und nicht in das Widderhorn bläst und das Volk nicht gewarnt wird und wenn das Schwert kommt und irgendeinen dahinrafft, dann wird dieser zwar wegen seiner eigenen Schuld dahingerafft, aber ich fordere für sein Blut Rechenschaft von dem Wächter. (Ex 33,1-6)

Gott zeigt dem Propheten Ezechiel in einer Vision die Bedeutung des Wächters. Diese Worte vermittelt Ezechiel dem Volk. Was er sagt, sollte allen einsichtig sein. Jede Stadt und jedes Land hatte auf seinen Mauern und an seinen Grenzen Wächter. Sie blickten in die Ferne, um möglichst früh das Herannahen feindlicher Truppen zu erkennen. Sobald sie Feinde erkannten, biesen sie in das Horn und warnten die Bevölkerung. So blieb genügend Zeit, sich in Sicherheit zu bringen und eine Verteidigungsstellung aufzubauen.
Doch es gibt zwei Fälle, in denen dieses Prinzip nicht funktioniert. Der eine Fall tritt ein, wenn das Volk nicht auf die Wächter hört und trotz Warnung nichts zu seinem Schutz unternimmt. Ein solches Verhalten scheint zunächst unwahrscheinlich, doch gerade wenn die Bedrohung nicht offensichtlich ist und man sich in falscher Sicherheit wiegt, kann es schon sehr leicht vorkommen, dass die Menschen zu ihrem eigenen Schaden nicht auf die Warnungen der Wächter hören.
Der andere Fall tritt ein, wenn die Wächter ihre Aufgabe vernachlässigen. Sie sehen den Feind zu spät oder werden gar von ihm überwältigt, bevor sie die anderen warnen können. Dann sind die Wächter schuld am Untergang des Volkes und werden für ihre Nachlässigkeit bestraft.

Du aber, Menschensohn, ich gebe dich dem Haus Israel als Wächter; wenn du ein Wort aus meinem Mund hörst, musst du sie vor mir warnen. Wenn ich zu einem, der sich schuldig gemacht hat, sage: Du musst sterben!, und wenn du nicht redest und den Schuldigen nicht warnst, um ihn von seinem Weg abzubringen, dann wird der Schuldige seiner Sünde wegen sterben. Von dir aber fordere ich Rechenschaft für sein Blut. Wenn du aber den Schuldigen vor seinem Weg gewarnt hast, damit er umkehrt, und wenn er dennoch auf seinem Weg nicht umkehrt, dann wird er seiner Sünde wegen sterben; du aber hast dein Leben gerettet. (Ez 33,7-9)

Ezechiel wird von Gott zum Wächter für das Volk bestimmt. Genau diese Worte hat Gott bereits unmittelbar nach der Sendung des Propheten zu ihm gesprochen (Ez 3,17-19). Dies zeigt die Dringlichkeit des Auftrags. Ezechiel hat diesen Auftrag sicher sehr ernst genommen. Doch nicht immer hat das Volk auf seine Warnung gehört.
Zu allen Zeiten waren Wächter von besonderer Bedeutung. Man brauchte sie an den Grenzen eines Landes oder einer Stadt, damit sie von hohen Türmen aus in die Ferne blickten, um zu sehen, ob etwa ein Feind im Anmarsch wäre. In der Stadt schaute der Nachtwächter nach dem Rechten, um beispielsweise ein Feuer schnell zu erkennen, während die anderen Menschen schliefen. Heute hat die Technik viele Aufgaben der Wächter übernommen. Wir haben Radar und Überwachungskameras, die uns auf verdächtige Bewegungen aufmerksam machen und Feuermelder, die bei einem Brand Alarm schlagen. Doch die Technik kann nicht alles. Auch heute brauchen wir Menschen, die im Notfall schnell eingreifen und Hilfe bringen können.
Wächter kommt von Wachen. Der Wächter schläft nicht, er hat ein wachsames Auge auf mögliche Gefahren, während die anderen in Ruhe ihren Geschäften nachgehen oder sich ausruhen. In vielen anderen Sprachen kommt das Wort Wächter aus dem Wortstamm "sehen", so wie in unserer Sprache das Wort Späher, z.B. watchman im Englischen. Es sind Menschen mit einem offenen Auge, einem Auge, das geschult ist, Gefahren möglichst früh zu erkennen.
Zu allen Zeiten waren solche Menschen mit einem wachsamen offenen Auge für eine Gesellschaft unerlässlich und auch heute ist es für uns selbstverständlich, dass wir ein funktionierendes Notfallsystem haben, das uns auf mögliche Gefahren frühzeitig aufmerksam macht. Wo ein solches System versagt oder wo die Wächter selbst schlafen, sind Katastrophen vorprogrammiert, weil Gefahren erst dann bemerkt werden, wenn es zu spät ist.
Wir brauchen Wächter für unsere leibliche Sicherheit, aber brauchen wir nicht genauso auch Wächter für das Heil unserer Seele? Gott bestimmt den Propheten Ezechiel zum einem solchen Wächter für Israel. Er soll im Auftrag Gottes Menschen warnen, die Unrecht tun. Beide, die materiellen Gefahren, aber auch die Gefahren für unsere Seele, bedrohen unser Leben, wie aus dem Text bei Ezechiel deutlich wird.
Doch wer kann ein solcher Wächter sein? Mit Schrecken denken wir an Gesellschaften, die durch ein Spitzelwesen die Menschen immer und überall überwachen wollen und auch unser modernes Überwachungssystem hat neben den oben geschilderten Vorzügen seine Gefahren, wenn Daten über uns gespeichert werden und damit unsere Privatsphäre ausgespäht wird. Schon immer gab es Überwachung, die über das Ziel der Sicherheit hinaus ging und dazu benutzt wurde, um Menschen auszuhorchen und in ihrer Freiheit einzuschränken. Wenn wir das schon im materiellen Bereich kritisch sehen, dann erst recht im Bereich des Geistes. Das zeigt, dass es nur wenige Seelenwächter geben kann, wie sie uns Ezechiel schildert.
Sicher gibt es auch heute viele Menschen, die mehr durch ihr Leben als durch Worte Vorbild sind für die anderen. Sie bringen andere zum Nachdenken darüber, was richtig und was falsch ist. Gute Eltern, gute Erzieher und gute Seelsorger leisten einen unersetzbaren Dienst in der Schulung des Gewissens junger Menschen. Wir brauchen gute Vorbilder gerade für die Jugend, Vorbilder, die nicht altbacken und besserwisserisch daherkommen, sondern denen man wirklich ansieht, dass es etwas gibt, worauf man sein Leben bauen kann, Menschen, die Gottes Gegenwart und Liebe durch ihr Leben durchscheinen lassen.
Es gibt aber auch immer wieder Menschen, die von Gott über ihren näheren Umkreis hinaus zu Seelenwächtern berufen worden sind. Ich denke hier z.B. an Bruder Klaus von der Flüe oder den Hl. Pfarrer von Ars. Sie haben zu ihrer Zeit Menschen über die Grenzen ihrer Gemeinde und ihres Landes hinweg aufgerüttelt, zum Nachdenken und zur Umkehr motiviert. Wie der Prophet Ezechiel haben sie nicht aus eigenem Gutdünken diese Aufgabe übernommen, sondern sie wurde ihnen von Gott angetragen und es war für sie selbst ein schwerer Weg, diese Berufung zu leben. Ich denke, dass die Welt auch heute solche Menschen braucht. Bitten wir Gott darum, dass er uns Heilige schenkt, die uns den Weg weisen, ganz besonders auch in schweren Zeiten.

Du aber, Menschensohn, sag zum Haus Israel: Ihr behauptet: Unsere Vergehen und unsere Sünden lasten auf uns, wir siechen ihretwegen dahin. Wie sollen wir da am Leben bleiben? Sag zu ihnen: So wahr ich lebe - Spruch Gottes, des Herrn -, ich habe kein Gefallen am Tod des Schuldigen, sondern daran, dass er auf seinem Weg umkehrt und am Leben bleibt. Kehrt um, kehrt um auf euren bösen Wegen! Warum wollt ihr sterben, ihr vom Haus Israel? (Ez 33,10-11)

Gott hat kein Gefallen am Tod des Schuldigen, das macht dieser Spruch des Propheten unmissverständlich klar. Die vorangegangenen Worte über den Wächter lassen auch die Deutung zu, dass der Wächter das Volk vor Gottes Zorn schützen müsse. Doch das ist nicht der Fall. Gott ruft zur Umkehr und diesen Ruf hat der Prophet zu verkünden. Wer aber diesem Ruf nicht folgt, ist selbst schuld an seinem Verderben.
Die folgenden Verse sind wie der Wächterspruch eine Wiederholung aus Ez 3,20, führen das Thema aber noch deutlicher aus. Ezechiel betont, dass es kein "Genug" an Gerechtigkeit gibt. Wenn ein Gerechter sein rechtschaffenes Leben aufgibt, wird er zum Sünder und seine vorangehende Gerechtigkeit wird ihm nicht angerechnet werden. Wenn aber ein Sünder seine Schuld bereut und umkehrt und ein rechtschaffenes Leben lebt, so wird seine vorangegangene Sünde vergessen sein. Für Gott zählt der Mensch zum jeweiligen Augenblick des Lebens. Gerechtigkeit muss dauerhaft sein, wenn der Mensch gerettet werden will.

Du aber, Menschensohn, sag zu den Söhnen deines Volkes: Den Gerechten wird seine Gerechtigkeit nicht retten, sobald er Böses tut. Und der Schuldige wird durch seine Schuld nicht zu Fall kommen, sobald er sein schuldhaftes Leben aufgibt. Der Gerechte aber kann trotz seiner Gerechtigkeit nicht am Leben bleiben, sobald er sündigt. Wenn ich zu dem Gerechten sage: Du wirst am Leben bleiben!, er aber im Vertrauen auf seine Gerechtigkeit Unrecht tut, dann wird ihm seine ganze (bisherige) Gerechtigkeit nicht angerechnet. Wegen des Unrechts, das er getan hat, muss er sterben. Wenn ich aber zu dem Schuldigen sage: Du musst sterben!, und er gibt sein sündhaftes Leben auf, handelt nach Recht und Gerechtigkeit, gibt (dem Schuldner) das Pfand zurück, ersetzt, was er geraubt hat, richtet sich nach den Gesetzen, die zum Leben führen, und tut kein Unrecht mehr, dann wird er gewiss am Leben bleiben und nicht sterben. Keine der Sünden, die er früher begangen hat, wird ihm angerechnet. Er hat nach Recht und Gerechtigkeit gehandelt, darum wird er gewiss am Leben bleiben.
Die Söhne deines Volkes aber sagen: Das Verhalten des Herrn ist nicht richtig. Dabei ist gerade ihr Verhalten nicht richtig. Wenn der Gerechte seine Gerechtigkeit aufgibt und Unrecht tut, muss er dafür sterben. Und wenn der Schuldige sein sündhaftes Leben aufgibt und nach Recht und Gerechtigkeit handelt, so wird er deswegen am Leben bleiben. Ihr aber sagt: Das Verhalten des Herrn ist nicht richtig. Doch ich werde euch richten, ihr vom Haus Israel, jeden nach seinem Verhalten. (Ez 33,12-20)

Die Leute, die Ezechiels Worte gehört haben, waren wohl nicht einverstanden mit dieser These. Zu sehr haben sie sich an Äußerlichkeiten gewöhnt. Ihre Gerechtigkeit war mehr Schein als Sein. Da aber durchbricht eine Nachricht die Sorglosigkeit der Menschen: Jerusalem ist erobert, es gibt keine Hoffnung auf eine baldige Heimkehr mehr.

Am fünften Tag des zehnten Monats im elften Jahr nach unserer Verschleppung kam ein Flüchtling aus Jerusalem zu mir und sagte: Die Stadt ist gefallen. Aber am Abend, bevor der Flüchtling eintraf, hatte sich die Hand des Herrn auf mich gelegt. Ehe am Morgen der Flüchtling kam, öffnete der Herr meinen Mund und mein Mund wurde geöffnet und ich war nicht mehr stumm. (Ez 33,21-22)

Die Eroberung Jerusalems stellt einen Wendepunkt im Leben des Propheten dar. War er vorher verstummt angesichts des drohenden Unheils, so wird nun sein Mund wieder geöffnet. Die Katastrophe ist eingetreten. Es braucht keine Mahnworte mehr. nun kommt die Strafe über ganz Israel. Fast alle werden verschleppt, viele müssen sterben, nur wenige finden in unwegsamen Gegenden Unterschlupf oder können nach Ägypten fliehen. Der Prophet macht noch einmal deutlich, dass jede Hoffnung auf eine baldige Heimkehr vergeblich ist. Aber doch hat Gott bereits neues Heil für sein Volk vorbereitet und bald wird Ezechiel dieses neue Heil verkünden.

Das Wort des Herrn erging an mich: Menschensohn, die Bewohner der Ruinen im Land Israel sagen: Abraham war nur ein einzelner Mann und bekam doch das ganze Land; wir aber sind viele. Umso mehr ist das Land uns zum Besitz gegeben. Deshalb sag zu ihnen: So spricht Gott, der Herr: Ihr esst (das Opferfleisch) mitsamt dem Blut, ihr blickt zu euren Göttern auf und vergießt Blut. Und ihr wollt das Land in Besitz nehmen? Ihr verlasst euch auf euer Schwert, begeht Gräueltaten und einer schändet die Frau des andern. Und ihr wollt das Land in Besitz nehmen? Darum sag zu ihnen: So spricht Gott, der Herr: So wahr ich lebe, wer in den Ruinen ist, fällt unter dem Schwert, wer auf dem freien Feld ist, den werfe ich den wilden Tieren zum Fraß vor, und wer sich in den Burgen und Höhlen aufhält, stirbt an der Pest. Ich mache das Land zur Öde und Wüste; seine stolze Macht hat ein Ende; das Bergland Israels verödet, sodass niemand mehr durchreist. Dann werden sie erkennen, dass ich der Herr bin, wenn ich das Land zur Öde und Wüste mache wegen all der Gräueltaten, die sie begangen haben. (Ez 33,23-29) Du, Menschensohn, die Söhne deines Volkes reden über dich an den Mauern und Toren der Häuser. Einer sagt zum andern: Komm doch und höre, was für ein Wort vom Herrn ausgeht. Dann kommen sie zu dir wie bei einem Volksauflauf, setzen sich vor dich hin [als mein Volk] und hören deine Worte an, aber sie befolgen sie nicht; denn ihr Mund ist voller Lügen und so handeln sie auch und ihr Herz ist nur auf Gewinn aus. Du bist für sie wie ein Mann, der mit wohlklingender Stimme von der Liebe singt und dazu schön auf der Harfe spielt. Sie hören deine Worte an, aber befolgen sie nicht. Wenn das aber kommt (was du sagst) - und es kommt -, dann werden sie erkennen, dass mitten unter ihnen ein Prophet war. (Ez 33,30-33)