Deuteronomium 1,1-3,29

Einführung

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Dtn
Das sind die Worte, die Mose vor ganz Israel gesprochen hat. Er sprach sie jenseits des Jordan, in der Wüste, in der Araba, gegenüber Suf, zwischen Paran und Tofel, Laban, Hazerot und Di-Sahab. Elf Tage sind es vom Horeb auf dem Weg zum Gebirge Seir bis nach Kadesch-Barnea. (Dtn 1,1-2)

Das Buch Deuteronomium bildet als das Fünfte Buch Mose den Abschluss des Pentateuch, der Fünf Bücher Mose. Gemäß dem Anfang des Buches wird es in der hebräischen Bibel "Debarim" (Reden) genannt. Vor dem Einzug des Volkes Israel in das Gelobte Land, das Mose selbst nicht mehr betreten darf (siehe Dtn 1,37), hält Mose, der das Volk vierzig Jahre hindurch aus Ägypten bis hierher geführt hat, eine oder mehrere Reden an das Volk. Darin gibt er zunächst einen Rückblick auf die Wüstenwanderung, um dann den Bund Gottes mit dem Volk, der am Horeb geschlossen worden ist, zu erneuern.
In Dtn 5 werden die Zehn Gebote überliefert. Die Fassung hier unterscheidet sich gegenüber Ex 20,1-21 Die weiteren Gesetze und Anordnungen haben viele Gemeinsamkeiten mit dem Bundesbuch in Ex 20,22-23,33. Sie stellen konkrete Ausführungsbestimmungen der Zehn Gebote dar und sollen das Leben Israels im verheißenen Land regeln, damit es zu einem weisen und gebildeten Volk wird (vgl. Dtn 4,6). Dtn 28,69-32,52 enthält den Bundesschluss, Anweisungen zum Umgang mit der Tora und das Lied des Mose. In Dtn 33,1-29 segnet der sterbende Mose die zwölf Stämme Israels und es folgt in Dtn 34,1-9 die Notiz vom Tod und vom Begräbnis des Mose. Dtn 34,10-12 kann man als abschließende Grabinschrift verstehen.
Die griechische Septuaginta und die auf ihr basierende lateinische Vulgata nennen das Buch Deuteronomium ("zweites Gesetz"). Unter diesem Namen ist es auch in katholischen Bibeln zu finden, während es in den protestantischen Bibeln den Titel "Fünftes Buch Mose" trägt. Nach jüdischer Tradition gilt Mose als Verfasser aller Fünf Bücher Mose. Die moderne Exegese hat etwa ab dem 18. Jahrhundert diese auch im Christentum angenommene Tatsache zunehmend in Frage gestellt und verschiedene Modelle einer komplexen Entstehungsgeschichte der Bücher des Alten Testaments entworfen.
Es lässt sich nicht mehr zweifelsfrei nachvollziehen, wie genau die einzelnen Bücher des Alten Testaments in ihrer Endfassung entstanden sind. Als sicher gilt heute jedoch, dass daran mehrere Autoren beteiligt waren. Es war ein langer Weg, bis aus uralten mündlichen Überlieferungen, die schriftlich gesammelt wurden, ein einheitliches Werk entstanden ist. Wir können bis heute noch Teile dieses Prozesses in den Texten erkennen, wenn beispielsweise ähnliche Traditionen an verschiedenen Stellen jeweils unterschiedlich überliefert werden oder wenn in den einzelnen Überlieferungen die unterschiedlichen Gottesbezeichnungen "JHWH" oder "Elohim" auftreten.
Wenn wir die Fünf Bücher Mose lesen, so fällt die Sonderstellung des Buches Deuteronomium auf. Man fragt sich, warum nach der ausführlichen Darlegung des Gesetzes in den Büchern Exodus und Leviticus dieses im Buch Deuteronomium nochmals wiederholt werden muss und zwar in einer teilweise von den anderen Büchern abweichenden Formulierung. Wahrscheinlich war das Deuteronomium zunächst ein eigenständiges Gesetzbuch, das erst später in den Pentateuch eingefügt wurde. Es bildete den Auftakt des deuteronomistischen Geschichtswerkes, das die Bücher Deuteronomium, Josua, Richter, 1-2 Samuel und 1-2 Könige umfasst und die Geschichte Gottes mit seinem Volk von der Landnahme bis in die Königszeit beschreibt.
Wir müssen davon ausgehen, dass nach dem Zusammenbruch des Nordreiches Israel (722 v.Chr.) die Geschichte Israels umgedeutet wurde. Es begann eine Zentralisierung auf Jerusalem als Hauptstadt und dem Tempel in Jerusalem als alleinigen Ort der Gottesverehrung. Dieser Prozess fand in der im Jahr 622 v.Chr. erfolgten Kultreform unter König Joschija ihren Höhepunkt. In diesem Zusammenhang berichtet 2Kön 22-23 von der Auffindung eines Gesetzbuches, bei dem es sich wahrscheinlich um einen Teil des Buches Deuteronomium gehandelt hat.
Das babylonische Exil (605-587 v.Chr.) stellte das Volk erneut vor neue Herausforderungen. Wie konnte es zu der Katastrophe kommen, dass Israel aus seinem Land vertrieben und der Tempel zerstört wurde? Hat Gott seinen Bund mit seinem Volk aufgekündigt, weil sich Israel nicht an die Gebote Gottes gehalten hat? Hier sind es vor allem die großen Propheten der Exilszeit, die den Blick lenken auf Gottes Treue und Barmherzigkeit gegenüber seinem Volk, die einen Neuanfang trotz dieser Katastrophe möglich machen. Im Exil besinnt sich Israel stärker als zuvor auf seine Einzigartigkeit, die aus dem Erwähltsein durch Gott hervorgeht und mit der eine deutliche Abgrenzung gegenüber den Göttern und Bräuchen anderer Völker und eine strenge Befolgung des Gesetzes Gottes einhergeht.
Alle diese Ereignisse haben ihre Spuren in der Entstehung der Bücher des Alten Testaments hinterlassen. Wenn es sich auch um teilweise uralte Überlieferungen handelt, wurden sie doch in einen neuen Kontext eingebunden, der den Zusammenhalt des Volkes, sein Erwähltsein und seine Treue zum Gott Israels stärken sollten. Dazu gehört auch das Bewusstsein, dass das Volk mit Mose einen einzigartigen Anführer und Propheten hatte, der von Angesicht zu Angesicht mit Gott geredet hat. Er hat das Gesetz direkt von Gott empfangen und hat es so, wie er es von Gott empfangen hat, an das Volk übermittelt. Diese Fiktion, die im Buch Deuteronomium durch die wörtliche Rede des Mose besonders stark zum Ausdruck kommt, stellt eine enge Verbindung durch die Jahrhunderte hinweg zu diesem Anfangspunkt her, als Israel einst in sein Land eingezogen ist.

Es war im vierzigsten Jahr, im elften Monat, am ersten Tag des Monats. Mose sagte den Israeliten genau das, was ihm der Herr für sie aufgetragen hatte. (Dtn 1,3)

Selbst nach vielen hundert Jahren hört der fromme Jude noch genau das, was Mose damals zum Volk gesprochen hat. Er steht in der Tradition des Bundes, der damals geschlossen wurde. Jeder frommen Jude heute trägt genauso wie die Juden damals und zu allen Zeiten die Verantwortung, die Geschichte Gottes mit seinem Volk mit Leben zu erfüllen. Das Buch Deuteronomium bildet die Richtschnur dafür, wie das Leben des Volkes Israel, das Leben jedes einzelnen Juden, im Bund mit seinem Gott ablaufen soll. Die folgenden Bücher des deuteronomistischen Geschichtswerkes zeigen die wechselvollen Ereignisse dieser Geschichte, in dem sich Zeiten des Erfolges und der treuen Befolgung des Gesetzes mit Zeiten der Vernachlässigung des Gesetzes und des Niedergangs abwechseln.

Nachdem er Sihon, den König der Amoriter, der in Heschbon seinen Sitz hatte, und bei Edrei auch Og, den König des Baschan, der in Aschtarot seinen Sitz hatte, geschlagen hatte, begann Mose jenseits des Jordan im Land Moab, diese Weisung bindend zu machen. Er sagte: Der Herr, unser Gott, hat am Horeb zu uns gesagt: Ihr habt euch lange genug an diesem Berg aufgehalten. Nun wendet euch dem Bergland der Amoriter zu, brecht auf und zieht hinauf! Zieht aus gegen alle seine Bewohner in der Araba, auf dem Gebirge, in der Schefela, im Negeb und an der Meeresküste! Zieht in das Land der Kanaaniter und in das Gebiet des Libanon, bis an den großen Strom, den Eufrat! Siehe, hiermit liefere ich euch das Land aus. Zieht hinein und nehmt es in Besitz, das Land, von dem ihr wisst: Der Herr hat euren Vätern Abraham, Isaak und Jakob geschworen, es ihnen und später ihren Nachkommen zu geben. (Dtn 1,4-8)

Israel hat von Gott sein Land zugeteilt bekommen, das Land, in das Abraham als Stammvater Israels einst als fremder gezogen ist. Nun ist das Volk so zahlreich geworden, wie es Gott dem Abraham zugesagt hat. Weil das Volk aber so groß geworden ist, kann es nicht mehr ein einzelner leiten. Die Leitung des Volkes durch Älteste geht ebenso wie die Gesetze auf Mose zurück.

Damals habe ich euch gesagt: Ich allein kann euch nicht tragen. Der Herr, euer Gott, hat euch zahlreich gemacht. Ja, ihr seid heute schon so zahlreich wie die Sterne am Himmel. Und der Herr, der Gott eurer Väter, lasse eure Zahl auf das Tausendfache wachsen und segne euch, wie er es euch versprochen hat. Wie soll ich allein euch tragen: eure Bürde, eure Last, eure Rechtshändel? Schlagt für jeden eurer Stämme weise, gebildete und wohlbekannte Männer vor, damit ich sie als eure Oberhäupter einsetze. Ihr habt mir geantwortet und gesagt: Das ist ein guter Vorschlag, den du gemacht hast. Er soll ausgeführt werden. Also habe ich die Häupter eurer Stämme, weise und wohlbekannte Männer, genommen und sie zu Häuptern über euch ernannt: als Anführer für je tausend, Anführer für je hundert, Anführer für je fünfzig, Anführer für je zehn, und als Listenführer, für jeden eurer Stämme. Damals habe ich eure Richter verpflichtet: Lasst jeden Streit zwischen euren Brüdern vor euch kommen! Entscheidet gerecht, sei es der Streit eines Mannes mit einem Bruder oder mit einem Fremden! Kennt vor Gericht kein Ansehen der Person! Klein wie Groß hört an! Fürchtet euch nicht vor angesehenen Leuten; denn das Gericht hat mit Gott zu tun. Und ist euch eine Sache zu schwierig, legt sie mir vor; dann werde ich sie anhören. Damals habe ich euch auf alle Regeln verpflichtet, an die ihr euch dabei halten sollt. (Dtn 1,9-18)

Nachdem das Volk am Horeb die Gebote Gottes und eine Neuordnung durch die Einsetzung von Ältesten empfangen hat, ist es bereit, ins Gelobte Land einzuziehen. Doch sie haben Angst, mit den so mächtig erscheinenden Bewohnern des Landes zu kämpfen. Ihr Vertrauen auf Gott ist noch zu schwach, so dass sie seinen Verheißungen noch nicht glauben können.

Wir brachen vom Horeb auf und wanderten durch die gesamte Wüste, die große und Furcht erregende, dieselbe, die ihr schon gesehen hattet, diesmal auf dem Weg zum Amoriterbergland, wie es uns der Herr, unser Gott, befohlen hatte. Wir kamen bis Kadesch- Barnea. Dort sagte ich zu euch: Nun seid ihr am Bergland der Amoriter angekommen, das der Herr, unser Gott, uns gibt. Sieh, der Herr, dein Gott, hat dir das Land ausgeliefert. Zieh hinauf und nimm es in Besitz, wie der Herr, der Gott deiner Väter, es dir versprochen hat. Fürchte dich nicht und hab keine Angst!
Da seid ihr zu mir gekommen, ihr alle, und habt gesagt: Wir wollen einige Männer vorausschicken. Sie sollen uns das Land auskundschaften und uns Bericht erstatten über den Weg, den wir hinaufziehen, und über die Städte, auf die wir treffen werden. Der Vorschlag erschien mir gut. Ich wählte unter euch zwölf Männer aus, für jeden Stamm einen. Sie wendeten sich dem Bergland zu, zogen hinauf, gelangten bis zum Traubental und erkundeten das Land. Sie pflückten einige von den Früchten des Landes, brachten sie zu uns herab und erstatteten uns Bericht. Sie sagten: Prächtig ist das Land, das der Herr, unser Gott, uns gibt. Doch ihr habt euch geweigert hinaufzuziehen. Ihr habt euch dem Befehl des Herrn, eures Gottes, widersetzt und habt in euren Zelten den Herrn verleumdet und gesagt: Weil er uns hasst, hat er uns aus Ägypten geführt. Er will uns in die Hand der Amoriter geben, um uns zu vernichten. Wohin sollen wir ziehen? Unsere Brüder haben uns das Herz zerschmolzen, als sie berichteten: Ein Volk, größer und höher gewachsen als wir, Städte, groß, mit himmelhohen Mauern. Sogar Anakiter haben wir dort gesehen.
Da habe ich zu euch gesagt: Ihr dürft nicht vor ihnen zurückweichen und dürft euch nicht vor ihnen fürchten. Der Herr, euer Gott, der euch vorangeht, er wird für euch kämpfen, genauso, wie er vor euren Augen in Ägypten auf eurer Seite gekämpft hat. Das Gleiche tat er in der Wüste, die du gesehen hast. Da hat der Herr, dein Gott, dich auf dem ganzen Weg, den ihr gewandert seid, getragen, wie ein Mann sein Kind trägt, bis ihr an diesen Ort kamt. Trotzdem habt ihr nicht an den Herrn, euren Gott, geglaubt, der euch auf dem Weg vorangeht, um euch die Stelle für das Lager zu suchen. Bei Nacht geht er im Feuer voran, um euch den Weg zu zeigen, auf dem ihr gehen sollt, bei Tag in der Wolke.
Der Herr hörte eure Stimme, eure Worte. Er wurde unwillig und schwor: Kein Einziger von diesen Männern, von dieser verdorbenen Generation, soll das prächtige Land sehen, von dem ihr wisst: Ich habe geschworen, es euren Vätern zu geben. Nur Kaleb, der Sohn Jefunnes, er wird es sehen. Ihm und seinen Söhnen werde ich das Land geben, das er betreten hat. Denn er ist dem Herrn ganz und gar nachgefolgt. Auch mir grollte der Herr euretwegen und sagte: Auch du sollst nicht in das Land hineinkommen. Josua, der Sohn Nuns, dein Gehilfe, er wird hineinkommen. Ihm übertrage Vollmacht: Er soll das Land an Israel als Erbbesitz verteilen. Und eure Kleinen, von denen ihr sagt: Zur Beute werden sie!, und eure Kinder, die heute noch nichts von Gut und Böse wissen, sie werden in das Land hineinkommen. Ihnen gebe ich es und sie nehmen es dann auch in Besitz. Ihr aber, wendet euch zur Wüste, brecht auf und nehmt den Weg zum Roten Meer! (Dtn 1,19-40)

Der Unglaube des Volkes führt dazu, dass die Generation des Auszugs aus Ägypten nicht in das Land hineinziehen darf. Aus Strafe für ihren Unglauben müssen die vierzig Jahre durch die Wüste ziehen, bis eine Generation gestorben ist. Nur die Kinder der Exodus-Generation werden das gelobte Land betreten. Nicht einmal Mose darf es betreten, da er selbst im Glauben schwach wurde und das Volk nicht ermutigen konnte. Nur Kaleb und Josua, die als einzige von den zwölf Kundschaftern an die Möglichkeit der Eroberung des Landes glaubten, dürfen hineinziehen. Kaleb wird später einen besonderen Teil des Landes als Erbbesitz erhalten, Josua wird zum Nachfolger des Mose. Er wird als Anführer dem Volk bei der Eroberung des Landes voranziehen. Hier wird der erzählerische Bogen gespannt, der das Buch Deuteronomium mit den folgenden Geschichtsbüchern verbindet.